Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786.
Arbeitet sich aber die vorstellende Kraft selbst durch den Mangel oder die Unbrauchbarkeit eines dieser sinnlichen Werkzeuge durch -- und sucht sie sich selber diesen Mangel auf irgend einer Art zu ersetzen, so muß sie nothwendig mehr als das bloße Resultat der Zusammenstellung dieser sinnlichen Werkzeuge seyn. -- Jn dieser Rücksicht sind also sorgfältige Beobachtungen über Taubstumme gewiß von sehr großem Werth -- und sind für den Denker sogar zu dessen Beruhigung nöthig -- dieser kann sich nicht enthalten, sich allemal in die Stelle des unglücklichsten unter seinen Mitgeschöpfen zu setzen; und würde sich seiner eignen Vorzüge nicht wohl freuen können, sobald er glauben müßte, daß irgend eines seiner Nebengeschöpfe eigentlich vernachlässiget wäre -- denn er betrachtet die Sache derselben, als seine eigne Sache. -- Es liegt ihm daran, daß auch ein Taub- und Stummgebohrner das edle Vergnügen des Denkens genieße, worauf derselbe sowohl als irgend ein andres Wesen seiner Art gerechte Ansprüche machen kann. Schrecklich wäre der Zufall der Geburt, wenn ein Taub- und Stummgebohrner nie vernünftig denken könnte. -- Mein Selbstgefühl schaudert vor diesem Gedanken, wie vor dem Rande eines Abgrundes zurück. -- Mir schwindelt vor dieser
Arbeitet sich aber die vorstellende Kraft selbst durch den Mangel oder die Unbrauchbarkeit eines dieser sinnlichen Werkzeuge durch — und sucht sie sich selber diesen Mangel auf irgend einer Art zu ersetzen, so muß sie nothwendig mehr als das bloße Resultat der Zusammenstellung dieser sinnlichen Werkzeuge seyn. — Jn dieser Ruͤcksicht sind also sorgfaͤltige Beobachtungen uͤber Taubstumme gewiß von sehr großem Werth — und sind fuͤr den Denker sogar zu dessen Beruhigung noͤthig — dieser kann sich nicht enthalten, sich allemal in die Stelle des ungluͤcklichsten unter seinen Mitgeschoͤpfen zu setzen; und wuͤrde sich seiner eignen Vorzuͤge nicht wohl freuen koͤnnen, sobald er glauben muͤßte, daß irgend eines seiner Nebengeschoͤpfe eigentlich vernachlaͤssiget waͤre — denn er betrachtet die Sache derselben, als seine eigne Sache. — Es liegt ihm daran, daß auch ein Taub- und Stummgebohrner das edle Vergnuͤgen des Denkens genieße, worauf derselbe sowohl als irgend ein andres Wesen seiner Art gerechte Anspruͤche machen kann. Schrecklich waͤre der Zufall der Geburt, wenn ein Taub- und Stummgebohrner nie vernuͤnftig denken koͤnnte. — Mein Selbstgefuͤhl schaudert vor diesem Gedanken, wie vor dem Rande eines Abgrundes zuruͤck. — Mir schwindelt vor dieser <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0006" n="6"/><lb/> dem Taub- und Stummgebohrnen nichts als Nebeneinanderstellung der Jdeen statt finden. </p> <p>Arbeitet sich aber die vorstellende Kraft selbst durch den Mangel oder die Unbrauchbarkeit eines dieser sinnlichen Werkzeuge durch — und sucht sie sich selber diesen Mangel auf irgend einer Art zu ersetzen, so muß sie nothwendig mehr als das bloße Resultat der Zusammenstellung dieser sinnlichen Werkzeuge seyn. — </p> <p>Jn dieser Ruͤcksicht sind also sorgfaͤltige Beobachtungen uͤber Taubstumme gewiß von sehr großem Werth — und sind fuͤr den Denker sogar zu dessen Beruhigung noͤthig — dieser kann sich nicht enthalten, sich allemal in die Stelle des ungluͤcklichsten unter seinen Mitgeschoͤpfen zu setzen; und wuͤrde sich seiner eignen Vorzuͤge nicht wohl freuen koͤnnen, sobald er glauben muͤßte, daß irgend eines seiner Nebengeschoͤpfe eigentlich <hi rendition="#b">vernachlaͤssiget</hi> waͤre — denn er betrachtet die Sache derselben, als seine eigne Sache. — Es liegt ihm daran, daß auch ein Taub- und Stummgebohrner das edle Vergnuͤgen des Denkens genieße, worauf derselbe sowohl als irgend ein andres Wesen seiner Art gerechte Anspruͤche machen kann. </p> <p>Schrecklich waͤre der Zufall der Geburt, wenn ein Taub- und Stummgebohrner nie vernuͤnftig denken <hi rendition="#b">koͤnnte. </hi> — Mein Selbstgefuͤhl schaudert vor diesem Gedanken, wie vor dem Rande eines Abgrundes zuruͤck. — Mir schwindelt vor dieser<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [6/0006]
dem Taub- und Stummgebohrnen nichts als Nebeneinanderstellung der Jdeen statt finden.
Arbeitet sich aber die vorstellende Kraft selbst durch den Mangel oder die Unbrauchbarkeit eines dieser sinnlichen Werkzeuge durch — und sucht sie sich selber diesen Mangel auf irgend einer Art zu ersetzen, so muß sie nothwendig mehr als das bloße Resultat der Zusammenstellung dieser sinnlichen Werkzeuge seyn. —
Jn dieser Ruͤcksicht sind also sorgfaͤltige Beobachtungen uͤber Taubstumme gewiß von sehr großem Werth — und sind fuͤr den Denker sogar zu dessen Beruhigung noͤthig — dieser kann sich nicht enthalten, sich allemal in die Stelle des ungluͤcklichsten unter seinen Mitgeschoͤpfen zu setzen; und wuͤrde sich seiner eignen Vorzuͤge nicht wohl freuen koͤnnen, sobald er glauben muͤßte, daß irgend eines seiner Nebengeschoͤpfe eigentlich vernachlaͤssiget waͤre — denn er betrachtet die Sache derselben, als seine eigne Sache. — Es liegt ihm daran, daß auch ein Taub- und Stummgebohrner das edle Vergnuͤgen des Denkens genieße, worauf derselbe sowohl als irgend ein andres Wesen seiner Art gerechte Anspruͤche machen kann.
Schrecklich waͤre der Zufall der Geburt, wenn ein Taub- und Stummgebohrner nie vernuͤnftig denken koͤnnte. — Mein Selbstgefuͤhl schaudert vor diesem Gedanken, wie vor dem Rande eines Abgrundes zuruͤck. — Mir schwindelt vor dieser
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0402_1786/6>, abgerufen am 16.07.2024. |