Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786.
Nie habe ich einen Menschen gesehen, der eine größere Furcht vor dem Tode gehabt hätte, als eben dieser Stumme, wenn man ihm durch demselben schon bekannte Zeichen sagte, daß alle Menschen dem Gesetz der Sterblichkeit unterworfen wären, so schien ihm dieses nicht die geringste Unruhe zu verursachen; aber wenn man diesen allgemeinen Satz auch auf ihn anzuwenden anfing, und ihn so an seine eigne Sterblichkeit erinnerte, so schien ein eiskalter Schauder durch alle seine Adern zu laufen und eine Todtenblässe überzog auf einmal sein Gesicht, und ich wage es nicht zu bestimmen, ob die Furcht oder der Zorn mehr Antheil davon hatte. Derjenige wählte daher gewiß das sicherste Mittel, ihn auf einige Wochen aus seinem Hause zu verscheuchen, der ihn an seinen Tod erinnerte, und wenn er sich auch ja einmal wieder einstellte, so mußte der Prediger der Sterblichkeit sich doch gewiß öfters genug die bittersten Vorwürfe für seine Erinnerungen machen lassen.
Nie habe ich einen Menschen gesehen, der eine groͤßere Furcht vor dem Tode gehabt haͤtte, als eben dieser Stumme, wenn man ihm durch demselben schon bekannte Zeichen sagte, daß alle Menschen dem Gesetz der Sterblichkeit unterworfen waͤren, so schien ihm dieses nicht die geringste Unruhe zu verursachen; aber wenn man diesen allgemeinen Satz auch auf ihn anzuwenden anfing, und ihn so an seine eigne Sterblichkeit erinnerte, so schien ein eiskalter Schauder durch alle seine Adern zu laufen und eine Todtenblaͤsse uͤberzog auf einmal sein Gesicht, und ich wage es nicht zu bestimmen, ob die Furcht oder der Zorn mehr Antheil davon hatte. Derjenige waͤhlte daher gewiß das sicherste Mittel, ihn auf einige Wochen aus seinem Hause zu verscheuchen, der ihn an seinen Tod erinnerte, und wenn er sich auch ja einmal wieder einstellte, so mußte der Prediger der Sterblichkeit sich doch gewiß oͤfters genug die bittersten Vorwuͤrfe fuͤr seine Erinnerungen machen lassen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0055" n="55"/><lb/> ben, schuldig gemacht hatte, genau, und vertrat so die Stelle eines foͤrmlichen Anklaͤgers, sondern er gab auch dem beleidigten Theile durch seine Gebehrdensprache die wohlmeinende, aber freilich in der Ausuͤbung sehr harte Lehre, »daß es nun Zeit sei zu sterben, weil ihr Gatte mit einer andern Person sich verbinden wollte,« — freilich eine sehr schwere Lektion, die bis jetzt noch keine Person zu lernen Belieben getragen hat. </p> <p>Nie habe ich einen Menschen gesehen, der eine groͤßere Furcht vor dem Tode gehabt haͤtte, als eben dieser Stumme, wenn man ihm durch demselben schon bekannte Zeichen sagte, daß alle Menschen dem Gesetz der Sterblichkeit unterworfen waͤren, so schien ihm dieses nicht die geringste Unruhe zu verursachen; aber wenn man diesen allgemeinen Satz auch auf ihn anzuwenden anfing, und ihn so an seine eigne Sterblichkeit erinnerte, so schien ein eiskalter Schauder durch alle seine Adern zu laufen und eine Todtenblaͤsse uͤberzog auf einmal sein Gesicht, und ich wage es nicht zu bestimmen, ob die Furcht oder der Zorn mehr Antheil davon hatte. Derjenige waͤhlte daher gewiß das sicherste Mittel, ihn auf einige Wochen aus seinem Hause zu verscheuchen, der ihn an seinen Tod erinnerte, und wenn er sich auch ja einmal wieder einstellte, so mußte der Prediger der Sterblichkeit sich doch gewiß oͤfters genug die bittersten Vorwuͤrfe fuͤr seine Erinnerungen machen lassen. </p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [55/0055]
ben, schuldig gemacht hatte, genau, und vertrat so die Stelle eines foͤrmlichen Anklaͤgers, sondern er gab auch dem beleidigten Theile durch seine Gebehrdensprache die wohlmeinende, aber freilich in der Ausuͤbung sehr harte Lehre, »daß es nun Zeit sei zu sterben, weil ihr Gatte mit einer andern Person sich verbinden wollte,« — freilich eine sehr schwere Lektion, die bis jetzt noch keine Person zu lernen Belieben getragen hat.
Nie habe ich einen Menschen gesehen, der eine groͤßere Furcht vor dem Tode gehabt haͤtte, als eben dieser Stumme, wenn man ihm durch demselben schon bekannte Zeichen sagte, daß alle Menschen dem Gesetz der Sterblichkeit unterworfen waͤren, so schien ihm dieses nicht die geringste Unruhe zu verursachen; aber wenn man diesen allgemeinen Satz auch auf ihn anzuwenden anfing, und ihn so an seine eigne Sterblichkeit erinnerte, so schien ein eiskalter Schauder durch alle seine Adern zu laufen und eine Todtenblaͤsse uͤberzog auf einmal sein Gesicht, und ich wage es nicht zu bestimmen, ob die Furcht oder der Zorn mehr Antheil davon hatte. Derjenige waͤhlte daher gewiß das sicherste Mittel, ihn auf einige Wochen aus seinem Hause zu verscheuchen, der ihn an seinen Tod erinnerte, und wenn er sich auch ja einmal wieder einstellte, so mußte der Prediger der Sterblichkeit sich doch gewiß oͤfters genug die bittersten Vorwuͤrfe fuͤr seine Erinnerungen machen lassen.
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