Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 1. Berlin, 1786.

Bild:
<< vorherige Seite

Auch können für den Kenner vielleicht noch einige Züge übrig geblieben seyn, die mit ins männliche Alter hinübergingen; und in beiden Fällen bleibt es angenehm zu wissen: so sahest du damals, und so siehst du itzt aus.

Bei der Zeichnung jugendlicher Seelen, ihrer Neigungen und Aeußrungen derselben, hat es sicher noch mehr auf sich. Selten geht doch so eine Verwandlung im Großen vor, daß alles das, was die Seele des Kindes charakterisirte, ganz verloren gegangen, ganz umgeschaffen und verändert seyn, und daß man nun gleichsam einen sich weit ausbreitenden Strom finden sollte, der mit seiner Quelle nicht in Verbindung stände.

Den Erwachsnen zu schildern halte ich für eine weit mißlichere und unzuverlässigere Sache. Tausend Umstände können beitragen, oder schon gewirkt haben, die einander entgegengesetzt waren, welche also die Seele mit umstimmen, und ihr eine ganz andre Richtung geben können, als man grade vermuthet, indem man seine Zeichnung unternimmt.

Die jugendliche Seele ist noch so offen, ist noch ein so reiner, unverdorbner Spiegel, daß man grade hindurch, und das sehen kann, was im Grunde zu sehen ist; wenn man bei dem Manne wenigstens befürchten muß, daß er das nicht ist, was er zu seyn scheint.

Und dann ist es dem menschlichen Gemüthe einmal eigen, auch in die Zukunft zu sehen, und


Auch koͤnnen fuͤr den Kenner vielleicht noch einige Zuͤge uͤbrig geblieben seyn, die mit ins maͤnnliche Alter hinuͤbergingen; und in beiden Faͤllen bleibt es angenehm zu wissen: so sahest du damals, und so siehst du itzt aus.

Bei der Zeichnung jugendlicher Seelen, ihrer Neigungen und Aeußrungen derselben, hat es sicher noch mehr auf sich. Selten geht doch so eine Verwandlung im Großen vor, daß alles das, was die Seele des Kindes charakterisirte, ganz verloren gegangen, ganz umgeschaffen und veraͤndert seyn, und daß man nun gleichsam einen sich weit ausbreitenden Strom finden sollte, der mit seiner Quelle nicht in Verbindung staͤnde.

Den Erwachsnen zu schildern halte ich fuͤr eine weit mißlichere und unzuverlaͤssigere Sache. Tausend Umstaͤnde koͤnnen beitragen, oder schon gewirkt haben, die einander entgegengesetzt waren, welche also die Seele mit umstimmen, und ihr eine ganz andre Richtung geben koͤnnen, als man grade vermuthet, indem man seine Zeichnung unternimmt.

Die jugendliche Seele ist noch so offen, ist noch ein so reiner, unverdorbner Spiegel, daß man grade hindurch, und das sehen kann, was im Grunde zu sehen ist; wenn man bei dem Manne wenigstens befuͤrchten muß, daß er das nicht ist, was er zu seyn scheint.

Und dann ist es dem menschlichen Gemuͤthe einmal eigen, auch in die Zukunft zu sehen, und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0081" n="79"/><lb/>
          <p>Auch ko&#x0364;nnen fu&#x0364;r den Kenner vielleicht noch einige Zu&#x0364;ge u&#x0364;brig geblieben seyn, die                   mit ins ma&#x0364;nnliche Alter hinu&#x0364;bergingen; und in beiden Fa&#x0364;llen bleibt es angenehm zu                   wissen: so sahest du damals, und so siehst du itzt aus. </p>
          <p>Bei der Zeichnung jugendlicher Seelen, ihrer Neigungen und Aeußrungen derselben,                   hat es sicher noch mehr auf sich. Selten geht doch so eine Verwandlung im Großen                   vor, daß alles das, was die Seele des Kindes charakterisirte, ganz verloren                   gegangen, ganz umgeschaffen und vera&#x0364;ndert seyn, und daß man nun gleichsam einen                   sich weit ausbreitenden Strom finden sollte, der mit seiner Quelle nicht in                   Verbindung sta&#x0364;nde. </p>
          <p>Den Erwachsnen zu schildern halte ich fu&#x0364;r eine weit mißlichere und                   unzuverla&#x0364;ssigere Sache. Tausend Umsta&#x0364;nde ko&#x0364;nnen beitragen, oder schon gewirkt                   haben, die einander entgegengesetzt waren, welche also die Seele mit umstimmen,                   und ihr eine ganz andre Richtung geben ko&#x0364;nnen, als man grade vermuthet, indem man                   seine Zeichnung unternimmt. </p>
          <p>Die jugendliche Seele ist noch so offen, ist noch ein so reiner, unverdorbner                   Spiegel, daß man grade hindurch, und das sehen kann, was im Grunde zu sehen ist;                   wenn man bei dem Manne wenigstens befu&#x0364;rchten muß, daß er das nicht ist, was er zu                   seyn scheint. </p>
          <p>Und dann ist es dem menschlichen Gemu&#x0364;the einmal eigen, auch in die Zukunft zu                   sehen, und<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[79/0081] Auch koͤnnen fuͤr den Kenner vielleicht noch einige Zuͤge uͤbrig geblieben seyn, die mit ins maͤnnliche Alter hinuͤbergingen; und in beiden Faͤllen bleibt es angenehm zu wissen: so sahest du damals, und so siehst du itzt aus. Bei der Zeichnung jugendlicher Seelen, ihrer Neigungen und Aeußrungen derselben, hat es sicher noch mehr auf sich. Selten geht doch so eine Verwandlung im Großen vor, daß alles das, was die Seele des Kindes charakterisirte, ganz verloren gegangen, ganz umgeschaffen und veraͤndert seyn, und daß man nun gleichsam einen sich weit ausbreitenden Strom finden sollte, der mit seiner Quelle nicht in Verbindung staͤnde. Den Erwachsnen zu schildern halte ich fuͤr eine weit mißlichere und unzuverlaͤssigere Sache. Tausend Umstaͤnde koͤnnen beitragen, oder schon gewirkt haben, die einander entgegengesetzt waren, welche also die Seele mit umstimmen, und ihr eine ganz andre Richtung geben koͤnnen, als man grade vermuthet, indem man seine Zeichnung unternimmt. Die jugendliche Seele ist noch so offen, ist noch ein so reiner, unverdorbner Spiegel, daß man grade hindurch, und das sehen kann, was im Grunde zu sehen ist; wenn man bei dem Manne wenigstens befuͤrchten muß, daß er das nicht ist, was er zu seyn scheint. Und dann ist es dem menschlichen Gemuͤthe einmal eigen, auch in die Zukunft zu sehen, und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0401_1786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0401_1786/81
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 1. Berlin, 1786, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0401_1786/81>, abgerufen am 02.05.2024.