Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 1. Berlin, 1786.Auszug aus einem Briefe. ![]() Speier den 29sten December 1785. Mein Bruder, ein Jahr älter als ich, hatte eine Jmagination, die sehr lebhaft und empfänglich war, und deswegen auf einem Vorwurf nicht lange aushielt, die alte Jdee von jeder neuen sinnlichern und also reitzbarern verdrungen wurde; überhaupt war ihm der Eindruck in seiner Einbildungskraft von minder interessierenden Gegenständen und Vorstellungen, in dem Moment eines fühlbarern dahinreißendern, nur augenblicklicher Eindruck -- nur vorbeistreichende Lüftchen, und sein Blick blieb nur so lange auf demselben, bis ein plötzlicher stürmischer Windstoß das alte Gebäude der Phantasie erschütterte und den Grund zerstörte. Mit eilf Jahren ging er mit einem Schulfreunde um, der desselben Temperaments war; dieselbe Viertelstunde zum ersten Erscheinungsmoment unter den Erdesöhnen hatte; dieselbe Milch zur Nahrung sog. Beide lasen einige Zeit her ausrufende Aszeten und mährchenvolle Lebensbeschreibungen von Heiligen. Unter andern zog die Lebensart und der heilige romantische Wandel der Waldbrüder ihre Aufmerksamkeit auf sich. Nichts lieber und ergötzender war ihnen, als ein Geschichtchen zu lesen: wie ein frommer Mensch sich entschloß aus der Welt zu reisen; wie er sich Auszug aus einem Briefe. ![]() Speier den 29sten December 1785. Mein Bruder, ein Jahr aͤlter als ich, hatte eine Jmagination, die sehr lebhaft und empfaͤnglich war, und deswegen auf einem Vorwurf nicht lange aushielt, die alte Jdee von jeder neuen sinnlichern und also reitzbarern verdrungen wurde; uͤberhaupt war ihm der Eindruck in seiner Einbildungskraft von minder interessierenden Gegenstaͤnden und Vorstellungen, in dem Moment eines fuͤhlbarern dahinreißendern, nur augenblicklicher Eindruck — nur vorbeistreichende Luͤftchen, und sein Blick blieb nur so lange auf demselben, bis ein ploͤtzlicher stuͤrmischer Windstoß das alte Gebaͤude der Phantasie erschuͤtterte und den Grund zerstoͤrte. Mit eilf Jahren ging er mit einem Schulfreunde um, der desselben Temperaments war; dieselbe Viertelstunde zum ersten Erscheinungsmoment unter den Erdesoͤhnen hatte; dieselbe Milch zur Nahrung sog. Beide lasen einige Zeit her ausrufende Aszeten und maͤhrchenvolle Lebensbeschreibungen von Heiligen. Unter andern zog die Lebensart und der heilige romantische Wandel der Waldbruͤder ihre Aufmerksamkeit auf sich. Nichts lieber und ergoͤtzender war ihnen, als ein Geschichtchen zu lesen: wie ein frommer Mensch sich entschloß aus der Welt zu reisen; wie er sich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0115" n="113"/><lb/><lb/> </div> <div n="2"> <head>Auszug aus einem Briefe.</head><lb/> <note type="editorial"> <bibl> <persName ref="#ref6"><note type="editorial"/>Schlichting, Johann Ludwig Adam</persName> </bibl> </note> <p rendition="#right"> Speier den 29sten December 1785. </p> <p>Mein Bruder, ein Jahr aͤlter als ich, hatte eine Jmagination, die sehr lebhaft und empfaͤnglich war, und deswegen auf einem Vorwurf nicht lange aushielt, die alte Jdee von jeder neuen sinnlichern und also reitzbarern verdrungen wurde; uͤberhaupt war ihm der Eindruck in seiner Einbildungskraft von minder interessierenden Gegenstaͤnden und Vorstellungen, in dem Moment eines fuͤhlbarern dahinreißendern, nur augenblicklicher Eindruck — nur vorbeistreichende Luͤftchen, und sein Blick blieb nur so lange auf demselben, bis ein ploͤtzlicher stuͤrmischer Windstoß das alte Gebaͤude der Phantasie erschuͤtterte und den Grund zerstoͤrte. </p> <p>Mit eilf Jahren ging er mit einem Schulfreunde <choice><corr>um,</corr><sic>nm,</sic></choice> der desselben Temperaments war; dieselbe Viertelstunde zum ersten Erscheinungsmoment unter den <choice><corr>Erdesoͤhnen</corr><sic>Erdesohnen</sic></choice> hatte; dieselbe Milch <choice><corr>zur</corr><sic>znr</sic></choice> Nahrung sog. Beide lasen einige Zeit her ausrufende Aszeten und maͤhrchenvolle Lebensbeschreibungen von Heiligen. </p> <p>Unter andern zog die Lebensart und der heilige romantische Wandel der Waldbruͤder ihre Aufmerksamkeit auf sich. </p> <p>Nichts lieber und ergoͤtzender war ihnen, als ein Geschichtchen zu lesen: wie ein frommer Mensch sich entschloß aus der Welt zu reisen; wie er sich<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [113/0115]
Auszug aus einem Briefe.
Speier den 29sten December 1785.
Mein Bruder, ein Jahr aͤlter als ich, hatte eine Jmagination, die sehr lebhaft und empfaͤnglich war, und deswegen auf einem Vorwurf nicht lange aushielt, die alte Jdee von jeder neuen sinnlichern und also reitzbarern verdrungen wurde; uͤberhaupt war ihm der Eindruck in seiner Einbildungskraft von minder interessierenden Gegenstaͤnden und Vorstellungen, in dem Moment eines fuͤhlbarern dahinreißendern, nur augenblicklicher Eindruck — nur vorbeistreichende Luͤftchen, und sein Blick blieb nur so lange auf demselben, bis ein ploͤtzlicher stuͤrmischer Windstoß das alte Gebaͤude der Phantasie erschuͤtterte und den Grund zerstoͤrte.
Mit eilf Jahren ging er mit einem Schulfreunde um, der desselben Temperaments war; dieselbe Viertelstunde zum ersten Erscheinungsmoment unter den Erdesoͤhnen hatte; dieselbe Milch zur Nahrung sog. Beide lasen einige Zeit her ausrufende Aszeten und maͤhrchenvolle Lebensbeschreibungen von Heiligen.
Unter andern zog die Lebensart und der heilige romantische Wandel der Waldbruͤder ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Nichts lieber und ergoͤtzender war ihnen, als ein Geschichtchen zu lesen: wie ein frommer Mensch sich entschloß aus der Welt zu reisen; wie er sich
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 1. Berlin, 1786, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0401_1786/115>, abgerufen am 16.02.2025. |