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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785.

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Jch will es versuchen, diese Frage aufzulösen. Eine bekannte Erfahrung ist es, daß gewisse Eindrücke und Vorstellungen, bei Mangel der Aufmerksamkeit und Beobachtung, die Seele so leise berühren, daß davon gar keine Spur zurückbleibt. So geschieht es, daß viele mit offnen Ohren nicht hören, und mit unverschloßnen Augen nicht sehen. Wenn wir ein Buch lesen, und haben dabei fremde Gedanken, so machen die Worte einen gewissen schwachen Eindruck auf uns, und bringen auch wohl manche helldunkle Vorstellungen hervor, alles aber vermischt sich mit jenen fremden Gedanken und wir wissen am Ende nicht, was wir gelesen haben. Die Erinnerung hängt von der Stärke der Eindrücke und von der Lebhaftigkeit der Vorstellungen ab, je schwächer beide sind, desto schwerer ist nachher die Erinnerung und beim geringsten Grade dieser Stärke und Lebhaftigkeit ist die Vergessenheit unvermeidlich. Darum verwischen sich unzählige Eindrücke in unsrer Seele, wie die zu lose aufgetragnen Farben des Pastelmahlers. Wir verlieren auf diese Art Millionen Vorstellungen wieder, die wir einmal gehabt haben, dergestallt, daß, wenn wir sie in Zukunft mit grösserer Lebhaftigkeit bekommen, sie uns ganz neu zu seyn scheinen. Jch habe in manchem meiner Bücher die merkwürdigsten Stellen unterstrichen, und beim Wiederlesen waren sie mir so neu, als sie es das erstemal nur immer gewesen seyn mögen. Also Stärke der Eindrücke und


Jch will es versuchen, diese Frage aufzuloͤsen. Eine bekannte Erfahrung ist es, daß gewisse Eindruͤcke und Vorstellungen, bei Mangel der Aufmerksamkeit und Beobachtung, die Seele so leise beruͤhren, daß davon gar keine Spur zuruͤckbleibt. So geschieht es, daß viele mit offnen Ohren nicht hoͤren, und mit unverschloßnen Augen nicht sehen. Wenn wir ein Buch lesen, und haben dabei fremde Gedanken, so machen die Worte einen gewissen schwachen Eindruck auf uns, und bringen auch wohl manche helldunkle Vorstellungen hervor, alles aber vermischt sich mit jenen fremden Gedanken und wir wissen am Ende nicht, was wir gelesen haben. Die Erinnerung haͤngt von der Staͤrke der Eindruͤcke und von der Lebhaftigkeit der Vorstellungen ab, je schwaͤcher beide sind, desto schwerer ist nachher die Erinnerung und beim geringsten Grade dieser Staͤrke und Lebhaftigkeit ist die Vergessenheit unvermeidlich. Darum verwischen sich unzaͤhlige Eindruͤcke in unsrer Seele, wie die zu lose aufgetragnen Farben des Pastelmahlers. Wir verlieren auf diese Art Millionen Vorstellungen wieder, die wir einmal gehabt haben, dergestallt, daß, wenn wir sie in Zukunft mit groͤsserer Lebhaftigkeit bekommen, sie uns ganz neu zu seyn scheinen. Jch habe in manchem meiner Buͤcher die merkwuͤrdigsten Stellen unterstrichen, und beim Wiederlesen waren sie mir so neu, als sie es das erstemal nur immer gewesen seyn moͤgen. Also Staͤrke der Eindruͤcke und

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[7/0007] Jch will es versuchen, diese Frage aufzuloͤsen. Eine bekannte Erfahrung ist es, daß gewisse Eindruͤcke und Vorstellungen, bei Mangel der Aufmerksamkeit und Beobachtung, die Seele so leise beruͤhren, daß davon gar keine Spur zuruͤckbleibt. So geschieht es, daß viele mit offnen Ohren nicht hoͤren, und mit unverschloßnen Augen nicht sehen. Wenn wir ein Buch lesen, und haben dabei fremde Gedanken, so machen die Worte einen gewissen schwachen Eindruck auf uns, und bringen auch wohl manche helldunkle Vorstellungen hervor, alles aber vermischt sich mit jenen fremden Gedanken und wir wissen am Ende nicht, was wir gelesen haben. Die Erinnerung haͤngt von der Staͤrke der Eindruͤcke und von der Lebhaftigkeit der Vorstellungen ab, je schwaͤcher beide sind, desto schwerer ist nachher die Erinnerung und beim geringsten Grade dieser Staͤrke und Lebhaftigkeit ist die Vergessenheit unvermeidlich. Darum verwischen sich unzaͤhlige Eindruͤcke in unsrer Seele, wie die zu lose aufgetragnen Farben des Pastelmahlers. Wir verlieren auf diese Art Millionen Vorstellungen wieder, die wir einmal gehabt haben, dergestallt, daß, wenn wir sie in Zukunft mit groͤsserer Lebhaftigkeit bekommen, sie uns ganz neu zu seyn scheinen. Jch habe in manchem meiner Buͤcher die merkwuͤrdigsten Stellen unterstrichen, und beim Wiederlesen waren sie mir so neu, als sie es das erstemal nur immer gewesen seyn moͤgen. Also Staͤrke der Eindruͤcke und

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0303_1785/7>, abgerufen am 22.11.2024.