Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785.
An jene Erfahrung, alles unter einer gewissen Gestalt und Figur zu sehen gewöhnt, ist es uns nicht möglich, uns etwas ohne Gränze deutlich vorzustellen. Unaufhörlich verbinden sich die sinnlichen Begriffe von Grosse, Raum, Zahl und Verhältniß mit unsern abstrakten Begriffen selbst, und wir sehen uns alle Augenblicke genöthigt, Prädicate aus der sichtbaren Welt in die Reihe unsrer geistigen Vorstellungen zu mischen, wenn wir uns nicht in leere Träumereien verlieren wollen. Es ist wahr, wir können uns eine unendlich fortlaufende Linie, oder mehrere solcher Linien, die in gleicher Entfernung neben einander fortgehen, oder sich auch immer weiter von einander entfernen, vorstellen; allein wir können uns diese, oder mehrere benannte Linien nicht denken, wenn wir ihnen nicht erst einen gewissen Ort geben, wo wir sie entstehen lassen, --
An jene Erfahrung, alles unter einer gewissen Gestalt und Figur zu sehen gewoͤhnt, ist es uns nicht moͤglich, uns etwas ohne Graͤnze deutlich vorzustellen. Unaufhoͤrlich verbinden sich die sinnlichen Begriffe von Grosse, Raum, Zahl und Verhaͤltniß mit unsern abstrakten Begriffen selbst, und wir sehen uns alle Augenblicke genoͤthigt, Praͤdicate aus der sichtbaren Welt in die Reihe unsrer geistigen Vorstellungen zu mischen, wenn wir uns nicht in leere Traͤumereien verlieren wollen. Es ist wahr, wir koͤnnen uns eine unendlich fortlaufende Linie, oder mehrere solcher Linien, die in gleicher Entfernung neben einander fortgehen, oder sich auch immer weiter von einander entfernen, vorstellen; allein wir koͤnnen uns diese, oder mehrere benannte Linien nicht denken, wenn wir ihnen nicht erst einen gewissen Ort geben, wo wir sie entstehen lassen, — <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0052" n="52"/><lb/> alle Gegenstaͤnde eine gleiche Entfernung von seinem Auge zu haben scheinen; denn wie koͤnnte er sich von einer <hi rendition="#b">unterschiedenen</hi> Weite verschiedener Gegenstaͤnde einen Begrif machen, da er noch nie die Erfahrung gemacht hat, daß entferntere Sachen unter einem kleinern Winkel ins Auge fallen, und mithin auch uns kleiner, als nahe liegende, erscheinen muͤssen, und da die Lichtstrahlen von jenen <hi rendition="#b">fuͤr unsere Empfindung</hi> eben so schnell, als von diesen zu unsern Augen gelangen, folglich auch hierbei ihm kein Unterschied ihrer Entfernungen zu <choice><corr>entdecken</corr><sic>endecken</sic></choice> moͤglich waͤre. </p> <p>An jene Erfahrung, alles unter einer gewissen Gestalt und Figur zu sehen gewoͤhnt, ist es uns nicht moͤglich, uns etwas <hi rendition="#b">ohne Graͤnze deutlich</hi> vorzustellen. Unaufhoͤrlich verbinden sich die sinnlichen Begriffe von Grosse, Raum, Zahl und Verhaͤltniß mit unsern abstrakten Begriffen selbst, und wir sehen uns alle Augenblicke genoͤthigt, Praͤdicate aus der sichtbaren Welt in die Reihe unsrer geistigen Vorstellungen zu mischen, wenn wir uns nicht in leere Traͤumereien verlieren wollen. Es ist wahr, wir koͤnnen uns eine unendlich fortlaufende Linie, oder mehrere solcher Linien, die in gleicher Entfernung neben einander fortgehen, oder sich auch immer weiter von einander entfernen, vorstellen; allein wir koͤnnen uns diese, oder mehrere benannte Linien nicht denken, wenn wir ihnen nicht erst einen gewissen Ort geben, wo wir sie entstehen lassen, —<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [52/0052]
alle Gegenstaͤnde eine gleiche Entfernung von seinem Auge zu haben scheinen; denn wie koͤnnte er sich von einer unterschiedenen Weite verschiedener Gegenstaͤnde einen Begrif machen, da er noch nie die Erfahrung gemacht hat, daß entferntere Sachen unter einem kleinern Winkel ins Auge fallen, und mithin auch uns kleiner, als nahe liegende, erscheinen muͤssen, und da die Lichtstrahlen von jenen fuͤr unsere Empfindung eben so schnell, als von diesen zu unsern Augen gelangen, folglich auch hierbei ihm kein Unterschied ihrer Entfernungen zu entdecken moͤglich waͤre.
An jene Erfahrung, alles unter einer gewissen Gestalt und Figur zu sehen gewoͤhnt, ist es uns nicht moͤglich, uns etwas ohne Graͤnze deutlich vorzustellen. Unaufhoͤrlich verbinden sich die sinnlichen Begriffe von Grosse, Raum, Zahl und Verhaͤltniß mit unsern abstrakten Begriffen selbst, und wir sehen uns alle Augenblicke genoͤthigt, Praͤdicate aus der sichtbaren Welt in die Reihe unsrer geistigen Vorstellungen zu mischen, wenn wir uns nicht in leere Traͤumereien verlieren wollen. Es ist wahr, wir koͤnnen uns eine unendlich fortlaufende Linie, oder mehrere solcher Linien, die in gleicher Entfernung neben einander fortgehen, oder sich auch immer weiter von einander entfernen, vorstellen; allein wir koͤnnen uns diese, oder mehrere benannte Linien nicht denken, wenn wir ihnen nicht erst einen gewissen Ort geben, wo wir sie entstehen lassen, —
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0303_1785/52>, abgerufen am 18.07.2024. |