Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785.
Jch überlaß' es den Aerzten, diese sonderbare Erscheinung phisiologisch und pathologisch zu untersuchen, mir ist sie in psichologischer Hinsicht merkwürdig. Jch bemerke zum voraus folgendes: 1) Der Kranke hat nichts am Erinnerungsvermögen verloren, es ist nicht Schwäche seines Gedächtnisses, als Vermögen der Seele betrachtet, daß er sich dieses Zwischenzustandes so wenig erinnern kann, denn er kann sich übrigens auf die größten Kleinigkeiten besinnen, wenn sie nur nicht in diesen Zeitraum gehören. 2) Er hat während der Zeit, worauf er sich so wenig besinnen kann, die Empfindungen und Vorstellungen wirklich gehabt, die er äusserte, so wie den freyen Gebrauch seines Verstandes in den guten Stunden, denn seine Gedanken hatten Ordnung und Zusammenhang, wie jetzt, wo sie sich von jenen durch nichts, als Stärke und Lebhaftigkeit unterscheiden.
Jch uͤberlaß' es den Aerzten, diese sonderbare Erscheinung phisiologisch und pathologisch zu untersuchen, mir ist sie in psichologischer Hinsicht merkwuͤrdig. Jch bemerke zum voraus folgendes: 1) Der Kranke hat nichts am Erinnerungsvermoͤgen verloren, es ist nicht Schwaͤche seines Gedaͤchtnisses, als Vermoͤgen der Seele betrachtet, daß er sich dieses Zwischenzustandes so wenig erinnern kann, denn er kann sich uͤbrigens auf die groͤßten Kleinigkeiten besinnen, wenn sie nur nicht in diesen Zeitraum gehoͤren. 2) Er hat waͤhrend der Zeit, worauf er sich so wenig besinnen kann, die Empfindungen und Vorstellungen wirklich gehabt, die er aͤusserte, so wie den freyen Gebrauch seines Verstandes in den guten Stunden, denn seine Gedanken hatten Ordnung und Zusammenhang, wie jetzt, wo sie sich von jenen durch nichts, als Staͤrke und Lebhaftigkeit unterscheiden. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0005" n="5"/><lb/> Vergessenheit des ganzen vorherigen Zustandes, die eine Operation des Wundarztes ausgenommen, Statt finden laͤßt. Hier haben Sie also, M. H., ein Beispiel einer ausserordentlichen Vergessenheit eines fuͤnfwoͤchentlichen Zustandes. Die ganze Zwischenzeit zwischen dem wirklichen Anblick des Kindes und der Erscheinung desselben in dem Gedaͤchtniß, die einen Zeitraum von wenigstens fuͤnf Wochen begreift, ist dem Kranken, im eigentlichsten Verstande, verschwunden.</p> <p>Jch uͤberlaß' es den Aerzten, diese sonderbare Erscheinung phisiologisch und pathologisch zu untersuchen, mir ist sie in psichologischer Hinsicht merkwuͤrdig. Jch bemerke zum voraus folgendes:</p> <p>1) Der Kranke hat nichts am Erinnerungsvermoͤgen verloren, es ist nicht Schwaͤche seines Gedaͤchtnisses, als Vermoͤgen der Seele betrachtet, daß er sich dieses Zwischenzustandes so wenig erinnern kann, denn er kann sich uͤbrigens auf die groͤßten Kleinigkeiten besinnen, wenn sie nur nicht in diesen Zeitraum gehoͤren. </p> <p>2) Er hat waͤhrend der Zeit, worauf er sich so wenig besinnen kann, die Empfindungen und Vorstellungen wirklich gehabt, die er aͤusserte, so wie den freyen Gebrauch seines Verstandes in den guten Stunden, denn seine Gedanken hatten Ordnung und Zusammenhang, wie jetzt, wo sie sich von jenen durch nichts, als Staͤrke und Lebhaftigkeit unterscheiden.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [5/0005]
Vergessenheit des ganzen vorherigen Zustandes, die eine Operation des Wundarztes ausgenommen, Statt finden laͤßt. Hier haben Sie also, M. H., ein Beispiel einer ausserordentlichen Vergessenheit eines fuͤnfwoͤchentlichen Zustandes. Die ganze Zwischenzeit zwischen dem wirklichen Anblick des Kindes und der Erscheinung desselben in dem Gedaͤchtniß, die einen Zeitraum von wenigstens fuͤnf Wochen begreift, ist dem Kranken, im eigentlichsten Verstande, verschwunden.
Jch uͤberlaß' es den Aerzten, diese sonderbare Erscheinung phisiologisch und pathologisch zu untersuchen, mir ist sie in psichologischer Hinsicht merkwuͤrdig. Jch bemerke zum voraus folgendes:
1) Der Kranke hat nichts am Erinnerungsvermoͤgen verloren, es ist nicht Schwaͤche seines Gedaͤchtnisses, als Vermoͤgen der Seele betrachtet, daß er sich dieses Zwischenzustandes so wenig erinnern kann, denn er kann sich uͤbrigens auf die groͤßten Kleinigkeiten besinnen, wenn sie nur nicht in diesen Zeitraum gehoͤren.
2) Er hat waͤhrend der Zeit, worauf er sich so wenig besinnen kann, die Empfindungen und Vorstellungen wirklich gehabt, die er aͤusserte, so wie den freyen Gebrauch seines Verstandes in den guten Stunden, denn seine Gedanken hatten Ordnung und Zusammenhang, wie jetzt, wo sie sich von jenen durch nichts, als Staͤrke und Lebhaftigkeit unterscheiden.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0303_1785 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0303_1785/5 |
Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0303_1785/5>, abgerufen am 18.07.2024. |