Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784.Sie scheinen nicht zu glauben, daß ein geschriebenes Wort in der Einbildungskraft füglich könne dargestellt werden, weil sie die Buchstaben von dem Grunde, worauf sie befindlich sind, abgesondert betrachten, so daß dadurch ihre Farbe verschwindet: allein die Buchstaben mögen nun gedruckt oder geschrieben seyn, so können wir sie uns doch nicht ohne einen solchen Grund denken, dessen Oberfläche sie mit ihren Zügen färben, und also in eine weiße oder schwarze Farbe gekleidet, die Einbildungskraft beständig in Bewegung setzen, woher das Bild von ihnen eben so deutlich wird, als wenn wir sie in dem Buche oder auf dem Papiere vor Augen sehen. Allein, was setzen Sie denn nun an die Stelle dieser von Jhnen verworfnen Methode? Sie sagen: meine Schüler lernen lesen, und die Wörter laut und deutlich und mit Verstande hersagen. Sie denken träumend und wachend in ihrer artikulirten Sprache. Ein jeder kann sie anreden, wenn er nur die Worte langsam ausspricht. Die Schriftsprache gründet sich in ihrer Vorstellung auf die Tonsprache, die sie zwar nicht durch das Ohr, sondern durch einen andern Sinn empfangen. Zuerst ist ihr Geheul erbärmlich, aber nach zwei oder drei Jahren lernen sie laut und deutlich reden, und am Ende selbst deklamiren. Das Wort Paris also, welches meine Schüler in einem Augenblick fassen, daß sie es wieder an Sie scheinen nicht zu glauben, daß ein geschriebenes Wort in der Einbildungskraft fuͤglich koͤnne dargestellt werden, weil sie die Buchstaben von dem Grunde, worauf sie befindlich sind, abgesondert betrachten, so daß dadurch ihre Farbe verschwindet: allein die Buchstaben moͤgen nun gedruckt oder geschrieben seyn, so koͤnnen wir sie uns doch nicht ohne einen solchen Grund denken, dessen Oberflaͤche sie mit ihren Zuͤgen faͤrben, und also in eine weiße oder schwarze Farbe gekleidet, die Einbildungskraft bestaͤndig in Bewegung setzen, woher das Bild von ihnen eben so deutlich wird, als wenn wir sie in dem Buche oder auf dem Papiere vor Augen sehen. Allein, was setzen Sie denn nun an die Stelle dieser von Jhnen verworfnen Methode? Sie sagen: meine Schuͤler lernen lesen, und die Woͤrter laut und deutlich und mit Verstande hersagen. Sie denken traͤumend und wachend in ihrer artikulirten Sprache. Ein jeder kann sie anreden, wenn er nur die Worte langsam ausspricht. Die Schriftsprache gruͤndet sich in ihrer Vorstellung auf die Tonsprache, die sie zwar nicht durch das Ohr, sondern durch einen andern Sinn empfangen. Zuerst ist ihr Geheul erbaͤrmlich, aber nach zwei oder drei Jahren lernen sie laut und deutlich reden, und am Ende selbst deklamiren. Das Wort Paris also, welches meine Schuͤler in einem Augenblick fassen, daß sie es wieder an <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0075" n="75"/><lb/> <p>Sie scheinen nicht zu glauben, daß ein geschriebenes Wort in der Einbildungskraft fuͤglich koͤnne dargestellt werden, weil sie die Buchstaben von dem Grunde, worauf sie befindlich sind, abgesondert betrachten, so daß dadurch ihre Farbe verschwindet: allein die Buchstaben moͤgen nun gedruckt oder geschrieben seyn, so koͤnnen wir sie uns doch nicht ohne einen solchen Grund denken, dessen Oberflaͤche sie mit ihren Zuͤgen faͤrben, und also in eine weiße oder schwarze Farbe gekleidet, die Einbildungskraft bestaͤndig in Bewegung setzen, woher das Bild von ihnen eben so deutlich wird, als wenn wir sie in dem Buche oder auf dem Papiere vor Augen sehen. </p> <p>Allein, was setzen Sie denn nun an die Stelle dieser von Jhnen verworfnen Methode? Sie sagen: meine Schuͤler lernen lesen, und die Woͤrter laut und deutlich und mit Verstande hersagen. Sie denken traͤumend und wachend in ihrer artikulirten Sprache. Ein jeder kann sie anreden, wenn er nur die Worte langsam ausspricht. Die Schriftsprache gruͤndet sich in ihrer Vorstellung auf die Tonsprache, die sie zwar nicht durch das Ohr, sondern durch einen andern Sinn empfangen. Zuerst ist ihr Geheul erbaͤrmlich, aber nach zwei oder drei Jahren lernen sie laut und deutlich reden, und am Ende selbst deklamiren. </p> <p>Das Wort <hi rendition="#b">Paris</hi> also, welches meine Schuͤler in einem Augenblick fassen, daß sie es wieder an<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [75/0075]
Sie scheinen nicht zu glauben, daß ein geschriebenes Wort in der Einbildungskraft fuͤglich koͤnne dargestellt werden, weil sie die Buchstaben von dem Grunde, worauf sie befindlich sind, abgesondert betrachten, so daß dadurch ihre Farbe verschwindet: allein die Buchstaben moͤgen nun gedruckt oder geschrieben seyn, so koͤnnen wir sie uns doch nicht ohne einen solchen Grund denken, dessen Oberflaͤche sie mit ihren Zuͤgen faͤrben, und also in eine weiße oder schwarze Farbe gekleidet, die Einbildungskraft bestaͤndig in Bewegung setzen, woher das Bild von ihnen eben so deutlich wird, als wenn wir sie in dem Buche oder auf dem Papiere vor Augen sehen.
Allein, was setzen Sie denn nun an die Stelle dieser von Jhnen verworfnen Methode? Sie sagen: meine Schuͤler lernen lesen, und die Woͤrter laut und deutlich und mit Verstande hersagen. Sie denken traͤumend und wachend in ihrer artikulirten Sprache. Ein jeder kann sie anreden, wenn er nur die Worte langsam ausspricht. Die Schriftsprache gruͤndet sich in ihrer Vorstellung auf die Tonsprache, die sie zwar nicht durch das Ohr, sondern durch einen andern Sinn empfangen. Zuerst ist ihr Geheul erbaͤrmlich, aber nach zwei oder drei Jahren lernen sie laut und deutlich reden, und am Ende selbst deklamiren.
Das Wort Paris also, welches meine Schuͤler in einem Augenblick fassen, daß sie es wieder an
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/75 |
Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/75>, abgerufen am 26.07.2024. |