Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784.
Er frequentirte immer noch die Schule, und ging endlich auch ab. Jch hingegen war immer noch der Elende, der mit genauer Noth schreiben konnte. Die Noth meiner Eltern fing nun an sehr groß zu werden. Ohne Einnahme mußten sie alles verkaufen, was sie hatten, um sich das Leben zu fristen. Mein Bruder, der nun bald ausgelernt hatte, trug einen tiefen Gram über den schlechten Zustand seiner Eltern bei sich herum. Auf mich machte es nur so lange Eindruck, als ich zu Hause war, und das Elend sahe; ich war zu flüchtig, um mich darüber sehr zu betrüben. Meines Bruders Charakter neigte sich zu einer stillen Melancholie, die nur zu weit in die Zukunft sahe. Da er gar keine Aussichten zu einiger Unterstützung weder für sich noch für seine Eltern voraussahe, so setzte sich dieser Gram immer fester und nagte so lange an seinem Herzen, bis er im 18ten Jahre ein Opfer desselben wurde. Er hatte ein sehr gutes Herz, war
Er frequentirte immer noch die Schule, und ging endlich auch ab. Jch hingegen war immer noch der Elende, der mit genauer Noth schreiben konnte. Die Noth meiner Eltern fing nun an sehr groß zu werden. Ohne Einnahme mußten sie alles verkaufen, was sie hatten, um sich das Leben zu fristen. Mein Bruder, der nun bald ausgelernt hatte, trug einen tiefen Gram uͤber den schlechten Zustand seiner Eltern bei sich herum. Auf mich machte es nur so lange Eindruck, als ich zu Hause war, und das Elend sahe; ich war zu fluͤchtig, um mich daruͤber sehr zu betruͤben. Meines Bruders Charakter neigte sich zu einer stillen Melancholie, die nur zu weit in die Zukunft sahe. Da er gar keine Aussichten zu einiger Unterstuͤtzung weder fuͤr sich noch fuͤr seine Eltern voraussahe, so setzte sich dieser Gram immer fester und nagte so lange an seinem Herzen, bis er im 18ten Jahre ein Opfer desselben wurde. Er hatte ein sehr gutes Herz, war <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0052" n="52"/><lb/> nen andern Gegenstand. Es war ein gemeines Gassenmaͤdchen, und wir hielten sie uns gemeinschaftlich ― natuͤrlich immer noch auf meine Kosten, bis alle Quellen erschoͤpft waren. Sobald N** das merkte, fing er mich an zu meiden und sich andre Bekanntschaften zu suchen. Begegnete ich ihm dann, so that er als kennete er mich nicht; sprach von mir das allerschimpflichste; spottete oͤffentlich uͤber mein Gebrechen, und wurde nun mein offenbarer Feind. ― </p> <p>Er frequentirte immer noch die Schule, und ging endlich auch ab. Jch hingegen war immer noch der Elende, der mit genauer Noth schreiben konnte. Die Noth meiner Eltern fing nun an sehr groß zu werden. Ohne Einnahme mußten sie alles verkaufen, was sie hatten, um sich das Leben zu fristen. Mein Bruder, der nun bald ausgelernt hatte, trug einen tiefen Gram uͤber den schlechten Zustand seiner Eltern bei sich herum. Auf mich machte es nur so lange Eindruck, als ich zu Hause war, und das Elend sahe; ich war zu fluͤchtig, um mich daruͤber sehr zu betruͤben. Meines Bruders Charakter neigte sich zu einer stillen Melancholie, die nur zu weit in die Zukunft sahe. Da er gar keine Aussichten zu einiger Unterstuͤtzung weder fuͤr sich noch fuͤr seine Eltern voraussahe, so setzte sich dieser Gram immer fester und nagte so lange an seinem Herzen, bis er im 18ten Jahre ein Opfer desselben wurde. Er hatte ein sehr gutes Herz, war<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [52/0052]
nen andern Gegenstand. Es war ein gemeines Gassenmaͤdchen, und wir hielten sie uns gemeinschaftlich ― natuͤrlich immer noch auf meine Kosten, bis alle Quellen erschoͤpft waren. Sobald N** das merkte, fing er mich an zu meiden und sich andre Bekanntschaften zu suchen. Begegnete ich ihm dann, so that er als kennete er mich nicht; sprach von mir das allerschimpflichste; spottete oͤffentlich uͤber mein Gebrechen, und wurde nun mein offenbarer Feind. ―
Er frequentirte immer noch die Schule, und ging endlich auch ab. Jch hingegen war immer noch der Elende, der mit genauer Noth schreiben konnte. Die Noth meiner Eltern fing nun an sehr groß zu werden. Ohne Einnahme mußten sie alles verkaufen, was sie hatten, um sich das Leben zu fristen. Mein Bruder, der nun bald ausgelernt hatte, trug einen tiefen Gram uͤber den schlechten Zustand seiner Eltern bei sich herum. Auf mich machte es nur so lange Eindruck, als ich zu Hause war, und das Elend sahe; ich war zu fluͤchtig, um mich daruͤber sehr zu betruͤben. Meines Bruders Charakter neigte sich zu einer stillen Melancholie, die nur zu weit in die Zukunft sahe. Da er gar keine Aussichten zu einiger Unterstuͤtzung weder fuͤr sich noch fuͤr seine Eltern voraussahe, so setzte sich dieser Gram immer fester und nagte so lange an seinem Herzen, bis er im 18ten Jahre ein Opfer desselben wurde. Er hatte ein sehr gutes Herz, war
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/52>, abgerufen am 16.02.2025. |