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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 1. Berlin, 1784.

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III.
Fragment aus Anton Reisers Lebensgeschichte.

Antons Mutter hatte das Unglück, sich oft für beleidigt, und gern für beleidigt zu halten, auch wo sie es wirklich nicht war, um nur Ursach zu haben, sich zu kränken und zu betrüben, und ein gewisses Mitleiden mit sich selber zu empfinden, worinn sie eine Art von Vergnügen fand.

Leider scheint sie diese Krankheit auf ihren Sohn fortgeerbt zu haben, der jetzt noch oft vergeblich damit zu kämpfen hat.

Schon als Kind, wenn alle etwas bekamen, und ihm sein Antheil hingelegt wurde, ohne dabei zu sagen, es sey der seinige, so ließ er ihn lieber liegen, ob er gleich wußte, daß er für ihn bestimmt war, um nur die Süßigkeit des Unrechtleidens zu empfinden, und sagen zu können, alle andern haben etwas, und ich nichts bekommen!

Da er eingebildetes Unrecht schon so stark empfand, um so viel stärker mußte er das wirkliche empfinden. Und gewiß ist wohl bei niemanden die Empfindung des Unrechts stärker als bei Kindern, und niemanden kann auch leichter Unrecht geschehen; ein Satz, den alle Pädagogen täglich und stündlich beherzigen sollten. Oft konnte Anton stundenlang nachdenken, und Gründe gegen Grün-


III.
Fragment aus Anton Reisers Lebensgeschichte.

Antons Mutter hatte das Ungluͤck, sich oft fuͤr beleidigt, und gern fuͤr beleidigt zu halten, auch wo sie es wirklich nicht war, um nur Ursach zu haben, sich zu kraͤnken und zu betruͤben, und ein gewisses Mitleiden mit sich selber zu empfinden, worinn sie eine Art von Vergnuͤgen fand.

Leider scheint sie diese Krankheit auf ihren Sohn fortgeerbt zu haben, der jetzt noch oft vergeblich damit zu kaͤmpfen hat.

Schon als Kind, wenn alle etwas bekamen, und ihm sein Antheil hingelegt wurde, ohne dabei zu sagen, es sey der seinige, so ließ er ihn lieber liegen, ob er gleich wußte, daß er fuͤr ihn bestimmt war, um nur die Suͤßigkeit des Unrechtleidens zu empfinden, und sagen zu koͤnnen, alle andern haben etwas, und ich nichts bekommen!

Da er eingebildetes Unrecht schon so stark empfand, um so viel staͤrker mußte er das wirkliche empfinden. Und gewiß ist wohl bei niemanden die Empfindung des Unrechts staͤrker als bei Kindern, und niemanden kann auch leichter Unrecht geschehen; ein Satz, den alle Paͤdagogen taͤglich und stuͤndlich beherzigen sollten. Oft konnte Anton stundenlang nachdenken, und Gruͤnde gegen Gruͤn-

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[76/0078] III. Fragment aus Anton Reisers Lebensgeschichte. Antons Mutter hatte das Ungluͤck, sich oft fuͤr beleidigt, und gern fuͤr beleidigt zu halten, auch wo sie es wirklich nicht war, um nur Ursach zu haben, sich zu kraͤnken und zu betruͤben, und ein gewisses Mitleiden mit sich selber zu empfinden, worinn sie eine Art von Vergnuͤgen fand. Leider scheint sie diese Krankheit auf ihren Sohn fortgeerbt zu haben, der jetzt noch oft vergeblich damit zu kaͤmpfen hat. Schon als Kind, wenn alle etwas bekamen, und ihm sein Antheil hingelegt wurde, ohne dabei zu sagen, es sey der seinige, so ließ er ihn lieber liegen, ob er gleich wußte, daß er fuͤr ihn bestimmt war, um nur die Suͤßigkeit des Unrechtleidens zu empfinden, und sagen zu koͤnnen, alle andern haben etwas, und ich nichts bekommen! Da er eingebildetes Unrecht schon so stark empfand, um so viel staͤrker mußte er das wirkliche empfinden. Und gewiß ist wohl bei niemanden die Empfindung des Unrechts staͤrker als bei Kindern, und niemanden kann auch leichter Unrecht geschehen; ein Satz, den alle Paͤdagogen taͤglich und stuͤndlich beherzigen sollten. Oft konnte Anton stundenlang nachdenken, und Gruͤnde gegen Gruͤn-

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 1. Berlin, 1784, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0201_1784/78>, abgerufen am 25.11.2024.