Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 1. Berlin, 1784.
Nun ist es merkwürdig, daß man dasjenige, was nicht wirklich ist, ebenfalls beinahe so wie die Vergangenheit bezeichnet, indem man z.B. sagt, ich liebte dich, wenn du es verdientest. Weil nehmlich die Vergangenheit jetzt auch nicht mehr wirklich ist, so hat man sich das gar nicht Wirkliche, und das jetzt nicht Wirkliche beinahe auf einerlei Art gedacht und bezeichnet. Bei dem Verbum aber, wo der höhere Vokal zu einem tiefern herabgestimmt wird, um die Vergangenheit zu bezeichnen, als ich trage, ich trug, unterscheidet man das gar nicht Wirkliche, von dem nicht mehr Wirklichen, indem man den tiefern Vokal wiederum gleichsam zu einem halben, schwankenden Tone stimmt, und sagt z.B. ich trüge deine Bürde, wenn sie mir nicht zu schwer wäre. Denn ä, ö, und ü, sind gleichsam unter den Vokalen das, was in der Musik die halben Töne sind, darum sind sie am schicklichsten, das Schwankende, Ungewisse, und nicht Wirkliche bei dem Verbum zu bezeichnen. Wir sagen daher, ich sang, ich flog, ich trug, um etwas anzuzeigen, das gar nicht wirklich, sondern nur möglich ist --
Nun ist es merkwuͤrdig, daß man dasjenige, was nicht wirklich ist, ebenfalls beinahe so wie die Vergangenheit bezeichnet, indem man z.B. sagt, ich liebte dich, wenn du es verdientest. Weil nehmlich die Vergangenheit jetzt auch nicht mehr wirklich ist, so hat man sich das gar nicht Wirkliche, und das jetzt nicht Wirkliche beinahe auf einerlei Art gedacht und bezeichnet. Bei dem Verbum aber, wo der hoͤhere Vokal zu einem tiefern herabgestimmt wird, um die Vergangenheit zu bezeichnen, als ich trage, ich trug, unterscheidet man das gar nicht Wirkliche, von dem nicht mehr Wirklichen, indem man den tiefern Vokal wiederum gleichsam zu einem halben, schwankenden Tone stimmt, und sagt z.B. ich truͤge deine Buͤrde, wenn sie mir nicht zu schwer waͤre. Denn aͤ, oͤ, und uͤ, sind gleichsam unter den Vokalen das, was in der Musik die halben Toͤne sind, darum sind sie am schicklichsten, das Schwankende, Ungewisse, und nicht Wirkliche bei dem Verbum zu bezeichnen. Wir sagen daher, ich sang, ich flog, ich trug, um etwas anzuzeigen, das gar nicht wirklich, sondern nur moͤglich ist ― <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0125" n="123"/><lb/> deutenden Kraft verliert: so vertauscht man z.B. schon das nachdrucksvolle <hi rendition="#b">erscholl,</hi> mit dem matten und regelmaͤßigen <hi rendition="#b">erschallte,</hi> und eben so macht man es in mehrern Faͤllen. </p> <p>Nun ist es merkwuͤrdig, daß man dasjenige, was nicht wirklich ist, ebenfalls beinahe so wie die Vergangenheit bezeichnet, indem man z.B. sagt, <hi rendition="#b">ich liebte dich, wenn du es verdientest.</hi> Weil nehmlich die Vergangenheit <hi rendition="#b">jetzt</hi> auch nicht mehr wirklich ist, so hat man sich das <hi rendition="#b">gar nicht Wirkliche,</hi> und <hi rendition="#b">das jetzt nicht Wirkliche</hi> beinahe auf einerlei Art gedacht und bezeichnet. </p> <p>Bei dem Verbum aber, wo der hoͤhere Vokal zu einem tiefern herabgestimmt wird, um die Vergangenheit zu bezeichnen, als <hi rendition="#b">ich trage, ich trug,</hi> unterscheidet man <hi rendition="#b">das gar nicht Wirkliche,</hi> von dem <hi rendition="#b">nicht mehr Wirklichen,</hi> indem man den tiefern Vokal wiederum gleichsam zu einem halben, schwankenden Tone stimmt, und sagt z.B. <hi rendition="#b">ich truͤge deine Buͤrde, wenn sie mir nicht zu schwer waͤre.</hi></p> <p>Denn <hi rendition="#b">aͤ, oͤ,</hi> und <hi rendition="#b">uͤ,</hi> sind gleichsam unter den Vokalen das, was in der Musik die halben Toͤne sind, darum sind sie am schicklichsten, das Schwankende, Ungewisse, und nicht Wirkliche bei dem Verbum zu bezeichnen. </p> <p>Wir sagen daher, <hi rendition="#b">ich sang, ich flog, ich trug,</hi> um etwas anzuzeigen, <hi rendition="#b">das gar nicht wirklich,</hi> sondern nur <hi rendition="#b">moͤglich</hi> ist ― </p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [123/0125]
deutenden Kraft verliert: so vertauscht man z.B. schon das nachdrucksvolle erscholl, mit dem matten und regelmaͤßigen erschallte, und eben so macht man es in mehrern Faͤllen.
Nun ist es merkwuͤrdig, daß man dasjenige, was nicht wirklich ist, ebenfalls beinahe so wie die Vergangenheit bezeichnet, indem man z.B. sagt, ich liebte dich, wenn du es verdientest. Weil nehmlich die Vergangenheit jetzt auch nicht mehr wirklich ist, so hat man sich das gar nicht Wirkliche, und das jetzt nicht Wirkliche beinahe auf einerlei Art gedacht und bezeichnet.
Bei dem Verbum aber, wo der hoͤhere Vokal zu einem tiefern herabgestimmt wird, um die Vergangenheit zu bezeichnen, als ich trage, ich trug, unterscheidet man das gar nicht Wirkliche, von dem nicht mehr Wirklichen, indem man den tiefern Vokal wiederum gleichsam zu einem halben, schwankenden Tone stimmt, und sagt z.B. ich truͤge deine Buͤrde, wenn sie mir nicht zu schwer waͤre.
Denn aͤ, oͤ, und uͤ, sind gleichsam unter den Vokalen das, was in der Musik die halben Toͤne sind, darum sind sie am schicklichsten, das Schwankende, Ungewisse, und nicht Wirkliche bei dem Verbum zu bezeichnen.
Wir sagen daher, ich sang, ich flog, ich trug, um etwas anzuzeigen, das gar nicht wirklich, sondern nur moͤglich ist ―
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 1. Berlin, 1784, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0201_1784/125>, abgerufen am 16.02.2025. |