Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 3. Berlin, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

"Wird also Dein Vater den Leib, den Du jetzt hast, je wieder sehen können?

Phil. Nein!

"Was meinst Du nun, woran soll er Dich wieder kennen, wenn Du diesen Leib nicht mehr hast?

Phil. An meiner Seele.

"Recht, denn die kömmt ja eben in den Himmel; aber wird denn der Vater Deine Seele wohl sehen können?

Phil. Nein, er hat keine Augen mehr; die sind ja auch mit dem Leibe begraben.

"Aber wenn er nun Augen hätte?

Phil. Denn könnte er sie doch nicht sehen.

"Warum nicht?

Phil. Ja, weil man eine Seele nicht sehen kann.

"Da hast Du Recht, eine bloße Seele kann weder sehen, noch gesehen werden. Aber denn weiß ich doch wirklich nicht, woran sie Dein Vater kennen wird; hilf mir doch die Sache ausdenken, lieber Philipp; besinne Dich einmal, ob Du noch nie so etwas gehört hast, woran man eine Seele kennen kann. -- -- Hörst Du jetzt nicht etwas?

Phil. Ja, Küsters Johann läutet Feierabend.

"Woher weißt Du denn, daß es Johann ist, es kann ja wohl der Vater selbst seyn?

Phil. Nein, es läutet so sachte, und denn ists Johann, denn der kann noch nicht so sehr ziehen, wie sein Vater.



»Wird also Dein Vater den Leib, den Du jetzt hast, je wieder sehen koͤnnen?

Phil. Nein!

»Was meinst Du nun, woran soll er Dich wieder kennen, wenn Du diesen Leib nicht mehr hast?

Phil. An meiner Seele.

»Recht, denn die koͤmmt ja eben in den Himmel; aber wird denn der Vater Deine Seele wohl sehen koͤnnen?

Phil. Nein, er hat keine Augen mehr; die sind ja auch mit dem Leibe begraben.

»Aber wenn er nun Augen haͤtte?

Phil. Denn koͤnnte er sie doch nicht sehen.

»Warum nicht?

Phil. Ja, weil man eine Seele nicht sehen kann.

»Da hast Du Recht, eine bloße Seele kann weder sehen, noch gesehen werden. Aber denn weiß ich doch wirklich nicht, woran sie Dein Vater kennen wird; hilf mir doch die Sache ausdenken, lieber Philipp; besinne Dich einmal, ob Du noch nie so etwas gehoͤrt hast, woran man eine Seele kennen kann. ― ― Hoͤrst Du jetzt nicht etwas?

Phil. Ja, Kuͤsters Johann laͤutet Feierabend.

»Woher weißt Du denn, daß es Johann ist, es kann ja wohl der Vater selbst seyn?

Phil. Nein, es laͤutet so sachte, und denn ists Johann, denn der kann noch nicht so sehr ziehen, wie sein Vater.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div>
          <pb facs="#f0120" n="116"/><lb/>
          <p>»Wird also Dein Vater den Leib, den Du jetzt hast, je wieder                         sehen ko&#x0364;nnen? </p>
          <p>Phil. Nein! </p>
          <p>»Was meinst Du nun, woran soll er Dich wieder kennen, wenn Du                         diesen Leib nicht mehr hast? </p>
          <p><hi rendition="#b">Phil.</hi> An meiner Seele. </p>
          <p>»Recht, denn die ko&#x0364;mmt ja eben in den Himmel; aber wird denn                         der Vater Deine Seele wohl <hi rendition="#b">sehen</hi> ko&#x0364;nnen? </p>
          <p><hi rendition="#b">Phil.</hi> Nein, er hat keine Augen mehr; die                         sind ja auch mit dem Leibe begraben. </p>
          <p>»Aber wenn er nun Augen ha&#x0364;tte? </p>
          <p><hi rendition="#b">Phil.</hi> Denn ko&#x0364;nnte er sie doch nicht                         sehen. </p>
          <p>»Warum nicht? </p>
          <p><hi rendition="#b">Phil.</hi> Ja, weil man eine Seele nicht sehen                         kann. </p>
          <p>»Da hast Du Recht, eine bloße Seele kann weder sehen, noch                         gesehen werden. Aber denn weiß ich doch wirklich nicht, woran sie Dein Vater                         kennen wird; hilf mir doch die Sache ausdenken, lieber Philipp; besinne Dich                         einmal, ob Du noch nie so etwas geho&#x0364;rt hast, woran man eine Seele kennen                         kann. &#x2015; &#x2015; Ho&#x0364;rst Du jetzt nicht etwas? </p>
          <p><hi rendition="#b">Phil.</hi> Ja, Ku&#x0364;sters Johann la&#x0364;utet                         Feierabend. </p>
          <p>»Woher weißt Du denn, daß es Johann ist, es kann ja wohl der                         Vater selbst seyn? </p>
          <p><hi rendition="#b">Phil.</hi> Nein, es la&#x0364;utet so sachte, und denn                         ists Johann, denn der kann noch nicht so sehr ziehen, wie sein Vater. </p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[116/0120] »Wird also Dein Vater den Leib, den Du jetzt hast, je wieder sehen koͤnnen? Phil. Nein! »Was meinst Du nun, woran soll er Dich wieder kennen, wenn Du diesen Leib nicht mehr hast? Phil. An meiner Seele. »Recht, denn die koͤmmt ja eben in den Himmel; aber wird denn der Vater Deine Seele wohl sehen koͤnnen? Phil. Nein, er hat keine Augen mehr; die sind ja auch mit dem Leibe begraben. »Aber wenn er nun Augen haͤtte? Phil. Denn koͤnnte er sie doch nicht sehen. »Warum nicht? Phil. Ja, weil man eine Seele nicht sehen kann. »Da hast Du Recht, eine bloße Seele kann weder sehen, noch gesehen werden. Aber denn weiß ich doch wirklich nicht, woran sie Dein Vater kennen wird; hilf mir doch die Sache ausdenken, lieber Philipp; besinne Dich einmal, ob Du noch nie so etwas gehoͤrt hast, woran man eine Seele kennen kann. ― ― Hoͤrst Du jetzt nicht etwas? Phil. Ja, Kuͤsters Johann laͤutet Feierabend. »Woher weißt Du denn, daß es Johann ist, es kann ja wohl der Vater selbst seyn? Phil. Nein, es laͤutet so sachte, und denn ists Johann, denn der kann noch nicht so sehr ziehen, wie sein Vater.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0103_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0103_1783/120
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 3. Berlin, 1783, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0103_1783/120>, abgerufen am 24.11.2024.