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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 10, St. 3. Berlin, 1793.

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vergessen, was in den letzten vier Jahren vorgegangen war. Was aber vor dieser Zeit vorgegangen, wuste er recht wohl. Nach und nach erhielt er das Verlorengegangene wieder.


77-78.

Ein ziemlich einfältiger Mensch, dem man einen Dienst angetragen hat, wobei er nichts zu thun hatte, als bloß seinen Namen zu unterschreiben, erzählte einst, indem er zeigen wollte, wie viel Arbeit er habe, daß er seinen Namen in einem Morgen so oft geschrieben, daß er ihn am Ende vergessen hätte.

Anmerkung.

Diese Erzählung ist in doppelter Rücksicht psychologisch merkwürdig. Jst sie wahr, so ist es ein merkwürdiges Phänomen, daß eine Vorstellung, durch viele Wiederholung dem Gedächtniß eingeprägt, durch gar zu viele Wiederholung gänzlich vergessen werden kann! woraus man sieht, daß das Wiederholen als Bedingung des Gedächtnisses nicht ins Unendliche gehen, sondern ein Maximum haben muß. Jst sie aber von diesem Manne, bloß um mit seiner vielen Arbeit zu prahlen, erdichtet, so muß er doch (da er es im ganzen Ernste behauptete, und es bei ihm kein witziger Vademekumeinfall war) zum wenigsten geglaubt haben, daß ein solcher Fall


vergessen, was in den letzten vier Jahren vorgegangen war. Was aber vor dieser Zeit vorgegangen, wuste er recht wohl. Nach und nach erhielt er das Verlorengegangene wieder.


77-78.

Ein ziemlich einfaͤltiger Mensch, dem man einen Dienst angetragen hat, wobei er nichts zu thun hatte, als bloß seinen Namen zu unterschreiben, erzaͤhlte einst, indem er zeigen wollte, wie viel Arbeit er habe, daß er seinen Namen in einem Morgen so oft geschrieben, daß er ihn am Ende vergessen haͤtte.

Anmerkung.

Diese Erzaͤhlung ist in doppelter Ruͤcksicht psychologisch merkwuͤrdig. Jst sie wahr, so ist es ein merkwuͤrdiges Phaͤnomen, daß eine Vorstellung, durch viele Wiederholung dem Gedaͤchtniß eingepraͤgt, durch gar zu viele Wiederholung gaͤnzlich vergessen werden kann! woraus man sieht, daß das Wiederholen als Bedingung des Gedaͤchtnisses nicht ins Unendliche gehen, sondern ein Maximum haben muß. Jst sie aber von diesem Manne, bloß um mit seiner vielen Arbeit zu prahlen, erdichtet, so muß er doch (da er es im ganzen Ernste behauptete, und es bei ihm kein witziger Vademekumeinfall war) zum wenigsten geglaubt haben, daß ein solcher Fall

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[105/0105] vergessen, was in den letzten vier Jahren vorgegangen war. Was aber vor dieser Zeit vorgegangen, wuste er recht wohl. Nach und nach erhielt er das Verlorengegangene wieder. 77-78. Ein ziemlich einfaͤltiger Mensch, dem man einen Dienst angetragen hat, wobei er nichts zu thun hatte, als bloß seinen Namen zu unterschreiben, erzaͤhlte einst, indem er zeigen wollte, wie viel Arbeit er habe, daß er seinen Namen in einem Morgen so oft geschrieben, daß er ihn am Ende vergessen haͤtte. Anmerkung. Diese Erzaͤhlung ist in doppelter Ruͤcksicht psychologisch merkwuͤrdig. Jst sie wahr, so ist es ein merkwuͤrdiges Phaͤnomen, daß eine Vorstellung, durch viele Wiederholung dem Gedaͤchtniß eingepraͤgt, durch gar zu viele Wiederholung gaͤnzlich vergessen werden kann! woraus man sieht, daß das Wiederholen als Bedingung des Gedaͤchtnisses nicht ins Unendliche gehen, sondern ein Maximum haben muß. Jst sie aber von diesem Manne, bloß um mit seiner vielen Arbeit zu prahlen, erdichtet, so muß er doch (da er es im ganzen Ernste behauptete, und es bei ihm kein witziger Vademekumeinfall war) zum wenigsten geglaubt haben, daß ein solcher Fall

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 10, St. 3. Berlin, 1793, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01003_1793/105>, abgerufen am 08.05.2024.