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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.

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LITTERATUR.
darum mit der vollen Lebendigkeit der Dichtung dem herrschen-
den Heuchel- oder Aberglauben gegenübertrat und treten durfte.
Als darnieder er sah das Dasein liegen der Menschheit
Jammervoll auf der Erd', erdrückt von der lastenden Gottfurcht,
Die vom Himmelsgewölb ihr Antlitz offenbarend,
Schauerlich anzusehn, hinab auf die Sterblichen drohte,
Wagt' es ein griechischer Mann zuerst das sterbliche Auge
Ihr entgegen zu heben, zuerst ihr entgegenzutreten;
Und die muthige Macht des Gedankens siegte; gewaltig
Trat hinaus er über die flammenden Schranken des Weltalls
Und der verständige Geist durchschritt das unendliche Ganze.

Also eiferte der Dichter die Götter zu stürzen, wie Brutus die
Könige gestürzt, und ,die Natur von ihren strengen Herren
zu erlösen.' Aber nicht gegen Jovis längst eingestürzten Thron
wurden diese Flammenworte geschleudert; eben wie Ennius
kämpft Lucretius praktisch vor allen Dingen gegen den wüsten
Fremd- und Aberglauben der Menge, den Cult der grossen Mut-
ter zum Beispiel und die kindische Blitzweisheit der Etrusker.
Das Grauen und der Widerwille gegen die entsetzliche Welt
überhaupt, in der und für die der Dichter schrieb, haben dies
Gedicht eingegeben. Es wurde verfasst in jener hoffnungslosen
Zeit, wo das Regiment der Oligarchie gestürzt und das Caesars
noch nicht aufgerichtet war, in den schwülen Jahren, während
deren der Ausbruch des Bürgerkrieges in langer peinlicher Span-
nung erwartet ward. Wenn man dem ungleichartigen und un-
ruhigen Vortrag die Spannung eines Dichters anzufühlen meint,
der täglich erwartete den wüsten Lärm der Revolution über sich
und sein Werk hereinbrechen zu sehen, so wird man auch bei
seiner Anschauung der Menschen und der Dinge nicht verges-
sen dürfen, unter welchen Menschen und in Aussicht auf welche
Dinge sie ihm entstand. Unter allen in der caesarischen Zeit
einem zarten und poetisch organisirten Gemüth möglichen Welt-
anschauungen war die edelste und die veredelndste diese, dass
es eine Wohlthat für den Menschen ist erlöst zu werden von
dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und damit von
der bösen die Menschen, gleich wie die Kinder die Angst im
dunkeln Gemach, tückisch beschleichenden Furcht vor dem Tode
und vor den Göttern; dass, wie der Schlaf der Nacht erquick-
licher ist als die Plage des Tages, so auch der Tod, das ewige
Ausruhen von allem Hoffen und Fürchten, besser ist als das
Leben, wie denn auch die Götter des Dichters selber nichts sind
noch haben als die ewige selige Ruhe; dass die Höllenstrafen
nicht nach dem Leben den Menschen peinigen, sondern wäh-

LITTERATUR.
darum mit der vollen Lebendigkeit der Dichtung dem herrschen-
den Heuchel- oder Aberglauben gegenübertrat und treten durfte.
Als darnieder er sah das Dasein liegen der Menschheit
Jammervoll auf der Erd', erdrückt von der lastenden Gottfurcht,
Die vom Himmelsgewölb ihr Antlitz offenbarend,
Schauerlich anzusehn, hinab auf die Sterblichen drohte,
Wagt' es ein griechischer Mann zuerst das sterbliche Auge
Ihr entgegen zu heben, zuerst ihr entgegenzutreten;
Und die muthige Macht des Gedankens siegte; gewaltig
Trat hinaus er über die flammenden Schranken des Weltalls
Und der verständige Geist durchschritt das unendliche Ganze.

Also eiferte der Dichter die Götter zu stürzen, wie Brutus die
Könige gestürzt, und ‚die Natur von ihren strengen Herren
zu erlösen.‘ Aber nicht gegen Jovis längst eingestürzten Thron
wurden diese Flammenworte geschleudert; eben wie Ennius
kämpft Lucretius praktisch vor allen Dingen gegen den wüsten
Fremd- und Aberglauben der Menge, den Cult der groſsen Mut-
ter zum Beispiel und die kindische Blitzweisheit der Etrusker.
Das Grauen und der Widerwille gegen die entsetzliche Welt
überhaupt, in der und für die der Dichter schrieb, haben dies
Gedicht eingegeben. Es wurde verfaſst in jener hoffnungslosen
Zeit, wo das Regiment der Oligarchie gestürzt und das Caesars
noch nicht aufgerichtet war, in den schwülen Jahren, während
deren der Ausbruch des Bürgerkrieges in langer peinlicher Span-
nung erwartet ward. Wenn man dem ungleichartigen und un-
ruhigen Vortrag die Spannung eines Dichters anzufühlen meint,
der täglich erwartete den wüsten Lärm der Revolution über sich
und sein Werk hereinbrechen zu sehen, so wird man auch bei
seiner Anschauung der Menschen und der Dinge nicht verges-
sen dürfen, unter welchen Menschen und in Aussicht auf welche
Dinge sie ihm entstand. Unter allen in der caesarischen Zeit
einem zarten und poetisch organisirten Gemüth möglichen Welt-
anschauungen war die edelste und die veredelndste diese, daſs
es eine Wohlthat für den Menschen ist erlöst zu werden von
dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und damit von
der bösen die Menschen, gleich wie die Kinder die Angst im
dunkeln Gemach, tückisch beschleichenden Furcht vor dem Tode
und vor den Göttern; daſs, wie der Schlaf der Nacht erquick-
licher ist als die Plage des Tages, so auch der Tod, das ewige
Ausruhen von allem Hoffen und Fürchten, besser ist als das
Leben, wie denn auch die Götter des Dichters selber nichts sind
noch haben als die ewige selige Ruhe; daſs die Höllenstrafen
nicht nach dem Leben den Menschen peinigen, sondern wäh-

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[551/0561] LITTERATUR. darum mit der vollen Lebendigkeit der Dichtung dem herrschen- den Heuchel- oder Aberglauben gegenübertrat und treten durfte. Als darnieder er sah das Dasein liegen der Menschheit Jammervoll auf der Erd', erdrückt von der lastenden Gottfurcht, Die vom Himmelsgewölb ihr Antlitz offenbarend, Schauerlich anzusehn, hinab auf die Sterblichen drohte, Wagt' es ein griechischer Mann zuerst das sterbliche Auge Ihr entgegen zu heben, zuerst ihr entgegenzutreten; Und die muthige Macht des Gedankens siegte; gewaltig Trat hinaus er über die flammenden Schranken des Weltalls Und der verständige Geist durchschritt das unendliche Ganze. Also eiferte der Dichter die Götter zu stürzen, wie Brutus die Könige gestürzt, und ‚die Natur von ihren strengen Herren zu erlösen.‘ Aber nicht gegen Jovis längst eingestürzten Thron wurden diese Flammenworte geschleudert; eben wie Ennius kämpft Lucretius praktisch vor allen Dingen gegen den wüsten Fremd- und Aberglauben der Menge, den Cult der groſsen Mut- ter zum Beispiel und die kindische Blitzweisheit der Etrusker. Das Grauen und der Widerwille gegen die entsetzliche Welt überhaupt, in der und für die der Dichter schrieb, haben dies Gedicht eingegeben. Es wurde verfaſst in jener hoffnungslosen Zeit, wo das Regiment der Oligarchie gestürzt und das Caesars noch nicht aufgerichtet war, in den schwülen Jahren, während deren der Ausbruch des Bürgerkrieges in langer peinlicher Span- nung erwartet ward. Wenn man dem ungleichartigen und un- ruhigen Vortrag die Spannung eines Dichters anzufühlen meint, der täglich erwartete den wüsten Lärm der Revolution über sich und sein Werk hereinbrechen zu sehen, so wird man auch bei seiner Anschauung der Menschen und der Dinge nicht verges- sen dürfen, unter welchen Menschen und in Aussicht auf welche Dinge sie ihm entstand. Unter allen in der caesarischen Zeit einem zarten und poetisch organisirten Gemüth möglichen Welt- anschauungen war die edelste und die veredelndste diese, daſs es eine Wohlthat für den Menschen ist erlöst zu werden von dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und damit von der bösen die Menschen, gleich wie die Kinder die Angst im dunkeln Gemach, tückisch beschleichenden Furcht vor dem Tode und vor den Göttern; daſs, wie der Schlaf der Nacht erquick- licher ist als die Plage des Tages, so auch der Tod, das ewige Ausruhen von allem Hoffen und Fürchten, besser ist als das Leben, wie denn auch die Götter des Dichters selber nichts sind noch haben als die ewige selige Ruhe; daſs die Höllenstrafen nicht nach dem Leben den Menschen peinigen, sondern wäh-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856, S. 551. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische03_1856/561>, abgerufen am 22.11.2024.