Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.DIE UNTERWERFUNG DES WESTENS. und Römern trat sehr früh an die Stelle des Gaues der Mauer-ring als die Grundlage der politischen Einheit: wo zwei Gaue in denselben Mauern sich zusammenfanden, verschmolzen sie zu einem Gemeinwesen; wo eine Bürgerschaft einem Theil ihrer Mit- bürger einen neuen Mauerring anwies, entstand regelmässig da- mit auch ein neuer nur durch die Bande der Pietät und höchstens der Clientel mit der Muttergemeinde verknüpfter Staat. Bei den Kelten dagegen bleibt die ,Bürgerschaft' zu allen Zeiten der Clan: dem Gau und nicht irgend einer Stadt stehen Fürst und Rath vor und der allgemeine Gautag bildet die letzte Instanz im Staate. Der Mauerring ist nicht unbekannt, aber er hat nur strategische, nicht politische Bedeutung; wesshalb denn auch die gallischen Ortschaften, selbst ummauerte und sehr ansehnliche wie Vienna und Genava, den Griechen und Römern nichts sind als Dörfer. Zu Caesars Zeit bestand die ursprüngliche Clanverfassung noch wesentlich ungeändert bei den Inselkelten und in den nördlichen Gauen des Festlandes: die Landsgemeinde behauptete die höchste Autorität; der Fürst ward in wesentlichen Fragen durch ihre Be- schlüsse gebunden; der Gemeinderath war zahlreich -- er zählte in einzelnen Clans sechshundert Mitglieder --, scheint aber nicht mehr bedeutet zu haben als der Senat unter den römischen Kö- nigen. Dagegen in dem regsameren Süden des Landes war ein oder zwei Menschenalter vor Caesar -- die Kinder der letzten Könige lebten noch zu seiner Zeit -- wenigstens bei den grösse- ren Clans, den Arvernern, Haeduern, Sequanern, Helvetiern, eine Umwälzung eingetreten, die die Königsherrschaft beseitigte und dem Adel die Gewalt in die Hände gab. Die Ursache scheint die Entwickelung des Gefolgsystems gewesen zu sein, das zwar bei allen Nationen in einer gewissen Entwicklungsepoche in mehr oder minder bestimmter Gestalt auftritt, aber doch kaum irgendwo sonst eine so überwiegende politische Bedeutung erlangt hat wie in der keltischen Clanverfassung; wovon es eben nur die Kehrseite ist, dass der entgegengesetzte Pol der politischen Entwickelung, das städtische Gemeinwesen nirgends so durchaus nichtig erscheint wie bei den Kelten. Die keltische Aristokratie war allem Anschein nach ein hoher Adel, grösstentheils vielleicht die Glieder der kö- niglichen oder ehemals königlichen Familien, wie es denn bemer- kenswerth ist, dass die Häupter der entgegengesetzten Parteien in demselben Clan sehr häufig dem gleichen Geschlecht angehören. Diese grossen Familien vereinigten in ihrer Hand die ökonomische, kriegerische und politische Uebermacht. Sie monopolisirten die Pachtungen der nutzbaren Rechte des Staates. Sie nöthigten die DIE UNTERWERFUNG DES WESTENS. und Römern trat sehr früh an die Stelle des Gaues der Mauer-ring als die Grundlage der politischen Einheit: wo zwei Gaue in denselben Mauern sich zusammenfanden, verschmolzen sie zu einem Gemeinwesen; wo eine Bürgerschaft einem Theil ihrer Mit- bürger einen neuen Mauerring anwies, entstand regelmäſsig da- mit auch ein neuer nur durch die Bande der Pietät und höchstens der Clientel mit der Muttergemeinde verknüpfter Staat. Bei den Kelten dagegen bleibt die ‚Bürgerschaft‘ zu allen Zeiten der Clan: dem Gau und nicht irgend einer Stadt stehen Fürst und Rath vor und der allgemeine Gautag bildet die letzte Instanz im Staate. Der Mauerring ist nicht unbekannt, aber er hat nur strategische, nicht politische Bedeutung; weſshalb denn auch die gallischen Ortschaften, selbst ummauerte und sehr ansehnliche wie Vienna und Genava, den Griechen und Römern nichts sind als Dörfer. Zu Caesars Zeit bestand die ursprüngliche Clanverfassung noch wesentlich ungeändert bei den Inselkelten und in den nördlichen Gauen des Festlandes: die Landsgemeinde behauptete die höchste Autorität; der Fürst ward in wesentlichen Fragen durch ihre Be- schlüsse gebunden; der Gemeinderath war zahlreich — er zählte in einzelnen Clans sechshundert Mitglieder —, scheint aber nicht mehr bedeutet zu haben als der Senat unter den römischen Kö- nigen. Dagegen in dem regsameren Süden des Landes war ein oder zwei Menschenalter vor Caesar — die Kinder der letzten Könige lebten noch zu seiner Zeit — wenigstens bei den gröſse- ren Clans, den Arvernern, Haeduern, Sequanern, Helvetiern, eine Umwälzung eingetreten, die die Königsherrschaft beseitigte und dem Adel die Gewalt in die Hände gab. Die Ursache scheint die Entwickelung des Gefolgsystems gewesen zu sein, das zwar bei allen Nationen in einer gewissen Entwicklungsepoche in mehr oder minder bestimmter Gestalt auftritt, aber doch kaum irgendwo sonst eine so überwiegende politische Bedeutung erlangt hat wie in der keltischen Clanverfassung; wovon es eben nur die Kehrseite ist, daſs der entgegengesetzte Pol der politischen Entwickelung, das städtische Gemeinwesen nirgends so durchaus nichtig erscheint wie bei den Kelten. Die keltische Aristokratie war allem Anschein nach ein hoher Adel, gröſstentheils vielleicht die Glieder der kö- niglichen oder ehemals königlichen Familien, wie es denn bemer- kenswerth ist, daſs die Häupter der entgegengesetzten Parteien in demselben Clan sehr häufig dem gleichen Geschlecht angehören. Diese groſsen Familien vereinigten in ihrer Hand die ökonomische, kriegerische und politische Uebermacht. Sie monopolisirten die Pachtungen der nutzbaren Rechte des Staates. 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DIE UNTERWERFUNG DES WESTENS.
und Römern trat sehr früh an die Stelle des Gaues der Mauer-
ring als die Grundlage der politischen Einheit: wo zwei Gaue in
denselben Mauern sich zusammenfanden, verschmolzen sie zu
einem Gemeinwesen; wo eine Bürgerschaft einem Theil ihrer Mit-
bürger einen neuen Mauerring anwies, entstand regelmäſsig da-
mit auch ein neuer nur durch die Bande der Pietät und höchstens
der Clientel mit der Muttergemeinde verknüpfter Staat. Bei den
Kelten dagegen bleibt die ‚Bürgerschaft‘ zu allen Zeiten der Clan:
dem Gau und nicht irgend einer Stadt stehen Fürst und Rath
vor und der allgemeine Gautag bildet die letzte Instanz im Staate.
Der Mauerring ist nicht unbekannt, aber er hat nur strategische,
nicht politische Bedeutung; weſshalb denn auch die gallischen
Ortschaften, selbst ummauerte und sehr ansehnliche wie Vienna
und Genava, den Griechen und Römern nichts sind als Dörfer.
Zu Caesars Zeit bestand die ursprüngliche Clanverfassung noch
wesentlich ungeändert bei den Inselkelten und in den nördlichen
Gauen des Festlandes: die Landsgemeinde behauptete die höchste
Autorität; der Fürst ward in wesentlichen Fragen durch ihre Be-
schlüsse gebunden; der Gemeinderath war zahlreich — er zählte
in einzelnen Clans sechshundert Mitglieder —, scheint aber nicht
mehr bedeutet zu haben als der Senat unter den römischen Kö-
nigen. Dagegen in dem regsameren Süden des Landes war ein
oder zwei Menschenalter vor Caesar — die Kinder der letzten
Könige lebten noch zu seiner Zeit — wenigstens bei den gröſse-
ren Clans, den Arvernern, Haeduern, Sequanern, Helvetiern, eine
Umwälzung eingetreten, die die Königsherrschaft beseitigte und
dem Adel die Gewalt in die Hände gab. Die Ursache scheint die
Entwickelung des Gefolgsystems gewesen zu sein, das zwar bei
allen Nationen in einer gewissen Entwicklungsepoche in mehr oder
minder bestimmter Gestalt auftritt, aber doch kaum irgendwo sonst
eine so überwiegende politische Bedeutung erlangt hat wie in der
keltischen Clanverfassung; wovon es eben nur die Kehrseite ist,
daſs der entgegengesetzte Pol der politischen Entwickelung, das
städtische Gemeinwesen nirgends so durchaus nichtig erscheint
wie bei den Kelten. Die keltische Aristokratie war allem Anschein
nach ein hoher Adel, gröſstentheils vielleicht die Glieder der kö-
niglichen oder ehemals königlichen Familien, wie es denn bemer-
kenswerth ist, daſs die Häupter der entgegengesetzten Parteien in
demselben Clan sehr häufig dem gleichen Geschlecht angehören.
Diese groſsen Familien vereinigten in ihrer Hand die ökonomische,
kriegerische und politische Uebermacht. Sie monopolisirten die
Pachtungen der nutzbaren Rechte des Staates. Sie nöthigten die
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