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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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VIERTES BUCH. KAPITEL II.
fassungswidrig auf ein zweites Jahr verliehen zu erhalten. Hatte
er anfangs sich gewagt um das Gemeinwesen zu retten, so musste
er jetzt schon um sich zu retten das Gemeinwesen aufs Spiel
setzen. Die Wahlversammlung begann und die ersten Bezirke
gaben ihre Stimmen für Gracchus; aber die Gegenpartei drang
mit ihrem Einspruch schliesslich wenigstens insoweit durch, dass
die Versammlung unverrichteter Sache aufgelöst und auf den fol-
genden Tag die Entscheidung verlegt ward. Gracchus setzte alle
Mittel in Bewegung, erlaubte und unerlaubte; er zeigte sich dem
Volke im Trauergewand und empfahl ihm seinen unmündigen
Knaben; für den Fall, dass die Wahl abermals durch Einspruch
gestört werden würde, traf er Vorkehrungen den Anhang der
Aristokratie mit Gewalt von dem Versammlungsplatz vor dem
capitolinischen Tempel zu vertreiben. So kam der zweite Wahl-
tag heran; wieder erfolgte der Einspruch und der Auflauf be-
gann. Die Bürger zerstreuten sich; die Wahlversammlung war
factisch aufgehoben; der capitolinische Tempel ward geschlossen;
man erzählte sich in der Stadt, bald dass Tiberius die sämmt-
lichen Tribunen abgesetzt habe, bald dass er ohne Wiederwahl
sein Amt fortzuführen entschlossen sei. Der Senat versammelte
sich im Tempel der Treue hart bei dem Jupitertempel; die er-
bittertsten Gegner des Gracchus führten in der Sitzung das Wort;
als Tiberius die Hand nach der Stirn bewegte um in dem wil-
den Getümmel dem Volke zu erkennen zu geben, dass sein Kopf
bedroht sei, hiess es, er habe die Leute schon aufgefordert sein
Haupt mit der königlichen Binde zu schmücken. Der Consul
Scaevola ward angegangen den Hochverräther sofort tödten zu
lassen; als der gemässigte der Reform an sich keineswegs ab-
geneigte Mann das ebenso unsinnige als barbarische Begehren
unwillig zurückwies, forderte der Consular Publius Scipio Na-
sica, ein harter und leidenschaftlicher Aristokrat, die Gleichge-
sinnten auf sich zu bewaffnen, wie sie könnten, und ihm zu fol-
gen. Scheu wich das Stadtvolk aus einander, als es die vor-
nehmen Männer mit Stuhlbeinen und Knitteln in den Händen
zornigen Auges heranstürmen sah; von den Landleuten war zu
den Wahlen fast niemand in die Stadt gekommen; Gracchus ver-
suchte von wenigen begleitet zu entkommen. Aber er stürzte auf
der Flucht am Abhang des Capitols und ward von einem der
Wüthenden -- Publius Satureius und Lucius Rufus stritten sich
später um die Henkerehre -- vor den Bildsäulen der sieben Kö-
nige am Tempel der Treue durch einen Knittelschlag auf die
Schläfe getödtet; mit ihm dreihundert andre Männer, keiner

VIERTES BUCH. KAPITEL II.
fassungswidrig auf ein zweites Jahr verliehen zu erhalten. Hatte
er anfangs sich gewagt um das Gemeinwesen zu retten, so muſste
er jetzt schon um sich zu retten das Gemeinwesen aufs Spiel
setzen. Die Wahlversammlung begann und die ersten Bezirke
gaben ihre Stimmen für Gracchus; aber die Gegenpartei drang
mit ihrem Einspruch schlieſslich wenigstens insoweit durch, daſs
die Versammlung unverrichteter Sache aufgelöst und auf den fol-
genden Tag die Entscheidung verlegt ward. Gracchus setzte alle
Mittel in Bewegung, erlaubte und unerlaubte; er zeigte sich dem
Volke im Trauergewand und empfahl ihm seinen unmündigen
Knaben; für den Fall, daſs die Wahl abermals durch Einspruch
gestört werden würde, traf er Vorkehrungen den Anhang der
Aristokratie mit Gewalt von dem Versammlungsplatz vor dem
capitolinischen Tempel zu vertreiben. So kam der zweite Wahl-
tag heran; wieder erfolgte der Einspruch und der Auflauf be-
gann. Die Bürger zerstreuten sich; die Wahlversammlung war
factisch aufgehoben; der capitolinische Tempel ward geschlossen;
man erzählte sich in der Stadt, bald daſs Tiberius die sämmt-
lichen Tribunen abgesetzt habe, bald daſs er ohne Wiederwahl
sein Amt fortzuführen entschlossen sei. Der Senat versammelte
sich im Tempel der Treue hart bei dem Jupitertempel; die er-
bittertsten Gegner des Gracchus führten in der Sitzung das Wort;
als Tiberius die Hand nach der Stirn bewegte um in dem wil-
den Getümmel dem Volke zu erkennen zu geben, daſs sein Kopf
bedroht sei, hieſs es, er habe die Leute schon aufgefordert sein
Haupt mit der königlichen Binde zu schmücken. Der Consul
Scaevola ward angegangen den Hochverräther sofort tödten zu
lassen; als der gemäſsigte der Reform an sich keineswegs ab-
geneigte Mann das ebenso unsinnige als barbarische Begehren
unwillig zurückwies, forderte der Consular Publius Scipio Na-
sica, ein harter und leidenschaftlicher Aristokrat, die Gleichge-
sinnten auf sich zu bewaffnen, wie sie könnten, und ihm zu fol-
gen. Scheu wich das Stadtvolk aus einander, als es die vor-
nehmen Männer mit Stuhlbeinen und Knitteln in den Händen
zornigen Auges heranstürmen sah; von den Landleuten war zu
den Wahlen fast niemand in die Stadt gekommen; Gracchus ver-
suchte von wenigen begleitet zu entkommen. Aber er stürzte auf
der Flucht am Abhang des Capitols und ward von einem der
Wüthenden — Publius Satureius und Lucius Rufus stritten sich
später um die Henkerehre — vor den Bildsäulen der sieben Kö-
nige am Tempel der Treue durch einen Knittelschlag auf die
Schläfe getödtet; mit ihm dreihundert andre Männer, keiner

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[84/0094] VIERTES BUCH. KAPITEL II. fassungswidrig auf ein zweites Jahr verliehen zu erhalten. Hatte er anfangs sich gewagt um das Gemeinwesen zu retten, so muſste er jetzt schon um sich zu retten das Gemeinwesen aufs Spiel setzen. Die Wahlversammlung begann und die ersten Bezirke gaben ihre Stimmen für Gracchus; aber die Gegenpartei drang mit ihrem Einspruch schlieſslich wenigstens insoweit durch, daſs die Versammlung unverrichteter Sache aufgelöst und auf den fol- genden Tag die Entscheidung verlegt ward. Gracchus setzte alle Mittel in Bewegung, erlaubte und unerlaubte; er zeigte sich dem Volke im Trauergewand und empfahl ihm seinen unmündigen Knaben; für den Fall, daſs die Wahl abermals durch Einspruch gestört werden würde, traf er Vorkehrungen den Anhang der Aristokratie mit Gewalt von dem Versammlungsplatz vor dem capitolinischen Tempel zu vertreiben. So kam der zweite Wahl- tag heran; wieder erfolgte der Einspruch und der Auflauf be- gann. Die Bürger zerstreuten sich; die Wahlversammlung war factisch aufgehoben; der capitolinische Tempel ward geschlossen; man erzählte sich in der Stadt, bald daſs Tiberius die sämmt- lichen Tribunen abgesetzt habe, bald daſs er ohne Wiederwahl sein Amt fortzuführen entschlossen sei. Der Senat versammelte sich im Tempel der Treue hart bei dem Jupitertempel; die er- bittertsten Gegner des Gracchus führten in der Sitzung das Wort; als Tiberius die Hand nach der Stirn bewegte um in dem wil- den Getümmel dem Volke zu erkennen zu geben, daſs sein Kopf bedroht sei, hieſs es, er habe die Leute schon aufgefordert sein Haupt mit der königlichen Binde zu schmücken. Der Consul Scaevola ward angegangen den Hochverräther sofort tödten zu lassen; als der gemäſsigte der Reform an sich keineswegs ab- geneigte Mann das ebenso unsinnige als barbarische Begehren unwillig zurückwies, forderte der Consular Publius Scipio Na- sica, ein harter und leidenschaftlicher Aristokrat, die Gleichge- sinnten auf sich zu bewaffnen, wie sie könnten, und ihm zu fol- gen. Scheu wich das Stadtvolk aus einander, als es die vor- nehmen Männer mit Stuhlbeinen und Knitteln in den Händen zornigen Auges heranstürmen sah; von den Landleuten war zu den Wahlen fast niemand in die Stadt gekommen; Gracchus ver- suchte von wenigen begleitet zu entkommen. Aber er stürzte auf der Flucht am Abhang des Capitols und ward von einem der Wüthenden — Publius Satureius und Lucius Rufus stritten sich später um die Henkerehre — vor den Bildsäulen der sieben Kö- nige am Tempel der Treue durch einen Knittelschlag auf die Schläfe getödtet; mit ihm dreihundert andre Männer, keiner

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/94>, abgerufen am 07.05.2024.