Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

VIERTES BUCH. KAPITEL II.
und oberster Pontifex war. Sogar sein Bruder Publius Mucius
Scaevola, der Begründer der wissenschaftlichen Jurisprudenz in
Rom, dessen Stimme von um so grösserem Gewicht war, als er
gewissermassen ausserhalb der Parteien stand, schien dem Re-
formplan nicht abgeneigt; ähnlich dachte Quintus Metellus, der
Ueberwinder Makedoniens und der Achäer, mehr noch als sei-
ner Kriegsthaten halber hochgeachtet als ein Muster alter Zucht
und Sitte in seinem häuslichen wie in seinem öffentlichen Leben.
Tiberius Gracchus stand diesen Männern nah, namentlich dem
Claudius, dessen Tochter er, und dem Mucianus, dessen Tochter
sein Bruder zum Weib genommen hatte; es war kein Wunder,
dass der Gedanke sich in ihm regte den Reformplan selber wie-
der aufzunehmen, sobald er sich in einer Stellung befinden
werde die ihm verfassungsmässig die Initiative gestatte. Persön-
liche Motive mochten hierin ihn bestärken. Der Friedensvertrag,
den Mancinus 617 mit den Numantinern abschloss, war wesent-
lich Gracchus Werk; dass der Senat ihn cassirt hatte, dass der
Feldherr desswegen den Feinden ausgeliefert worden und Grac-
chus mit den höheren Offizieren dem gleichen Schicksal nur
durch die grössere Gunst, deren er bei der Bürgerschaft genoss,
entgangen war, konnte den jungen rechtschaffenen und stolzen
Mann nicht milder stimmen gegen die herrschende Aristokratie.
Die hellenischen Rhetoren, mit denen er gern philosophirte und
politisirte, der Mytilenaeer Diophanes, der Kumaner Gaius Blos-
sius, nährten in seiner Seele die Ideale, mit denen er sich trug;
als seine Absichten in weiteren Kreisen bekannt wurden, fehlte
es nicht an billigenden Stimmen und mancher öffentliche An-
schlag forderte den Enkel des Africaners auf des armen Volkes,
der Rettung Italiens zu gedenken.

Am 10 December 620 übernahm Tiberius Gracchus das
Volkstribunat. Es war die Zeit, wo die entsetzlichen Folgen der
bisherigen Missregierung, der politische, militärische, ökonomi-
sche, sittliche Verfall der Bürgerschaft nackt und bloss Jeder-
mann vor Augen lagen. Von den beiden Consuln dieses Jahres
focht der eine ohne Erfolg in Sicilien gegen die aufständischen
Sclaven und war der andere, Scipio Aemilianus, seit Monaten
beschäftigt eine kleine spanische Landschaft nicht zu besiegen,
sondern zu erdrücken. Wenn es noch einer besonderen Auffor-
derung bedurfte um Gracchus zu bestimmen seinen Entschluss
zur That werden zu lassen, sie lag in diesen jedes Patrioten
Gemüth mit unnennbarer Angst erfüllenden Zuständen. Sein
Schwiegervater versprach Beistand mit Rath und That; man

VIERTES BUCH. KAPITEL II.
und oberster Pontifex war. Sogar sein Bruder Publius Mucius
Scaevola, der Begründer der wissenschaftlichen Jurisprudenz in
Rom, dessen Stimme von um so gröſserem Gewicht war, als er
gewissermaſsen auſserhalb der Parteien stand, schien dem Re-
formplan nicht abgeneigt; ähnlich dachte Quintus Metellus, der
Ueberwinder Makedoniens und der Achäer, mehr noch als sei-
ner Kriegsthaten halber hochgeachtet als ein Muster alter Zucht
und Sitte in seinem häuslichen wie in seinem öffentlichen Leben.
Tiberius Gracchus stand diesen Männern nah, namentlich dem
Claudius, dessen Tochter er, und dem Mucianus, dessen Tochter
sein Bruder zum Weib genommen hatte; es war kein Wunder,
daſs der Gedanke sich in ihm regte den Reformplan selber wie-
der aufzunehmen, sobald er sich in einer Stellung befinden
werde die ihm verfassungsmäſsig die Initiative gestatte. Persön-
liche Motive mochten hierin ihn bestärken. Der Friedensvertrag,
den Mancinus 617 mit den Numantinern abschloſs, war wesent-
lich Gracchus Werk; daſs der Senat ihn cassirt hatte, daſs der
Feldherr deſswegen den Feinden ausgeliefert worden und Grac-
chus mit den höheren Offizieren dem gleichen Schicksal nur
durch die gröſsere Gunst, deren er bei der Bürgerschaft genoſs,
entgangen war, konnte den jungen rechtschaffenen und stolzen
Mann nicht milder stimmen gegen die herrschende Aristokratie.
Die hellenischen Rhetoren, mit denen er gern philosophirte und
politisirte, der Mytilenaeer Diophanes, der Kumaner Gaius Blos-
sius, nährten in seiner Seele die Ideale, mit denen er sich trug;
als seine Absichten in weiteren Kreisen bekannt wurden, fehlte
es nicht an billigenden Stimmen und mancher öffentliche An-
schlag forderte den Enkel des Africaners auf des armen Volkes,
der Rettung Italiens zu gedenken.

Am 10 December 620 übernahm Tiberius Gracchus das
Volkstribunat. Es war die Zeit, wo die entsetzlichen Folgen der
bisherigen Miſsregierung, der politische, militärische, ökonomi-
sche, sittliche Verfall der Bürgerschaft nackt und bloſs Jeder-
mann vor Augen lagen. Von den beiden Consuln dieses Jahres
focht der eine ohne Erfolg in Sicilien gegen die aufständischen
Sclaven und war der andere, Scipio Aemilianus, seit Monaten
beschäftigt eine kleine spanische Landschaft nicht zu besiegen,
sondern zu erdrücken. Wenn es noch einer besonderen Auffor-
derung bedurfte um Gracchus zu bestimmen seinen Entschluſs
zur That werden zu lassen, sie lag in diesen jedes Patrioten
Gemüth mit unnennbarer Angst erfüllenden Zuständen. Sein
Schwiegervater versprach Beistand mit Rath und That; man

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0090" n="80"/><fw place="top" type="header">VIERTES BUCH. KAPITEL II.</fw><lb/>
und oberster Pontifex war. Sogar sein Bruder Publius Mucius<lb/>
Scaevola, der Begründer der wissenschaftlichen Jurisprudenz in<lb/>
Rom, dessen Stimme von um so grö&#x017F;serem Gewicht war, als er<lb/>
gewisserma&#x017F;sen au&#x017F;serhalb der Parteien stand, schien dem Re-<lb/>
formplan nicht abgeneigt; ähnlich dachte Quintus Metellus, der<lb/>
Ueberwinder Makedoniens und der Achäer, mehr noch als sei-<lb/>
ner Kriegsthaten halber hochgeachtet als ein Muster alter Zucht<lb/>
und Sitte in seinem häuslichen wie in seinem öffentlichen Leben.<lb/>
Tiberius Gracchus stand diesen Männern nah, namentlich dem<lb/>
Claudius, dessen Tochter er, und dem Mucianus, dessen Tochter<lb/>
sein Bruder zum Weib genommen hatte; es war kein Wunder,<lb/>
da&#x017F;s der Gedanke sich in ihm regte den Reformplan selber wie-<lb/>
der aufzunehmen, sobald er sich in einer Stellung befinden<lb/>
werde die ihm verfassungsmä&#x017F;sig die Initiative gestatte. Persön-<lb/>
liche Motive mochten hierin ihn bestärken. Der Friedensvertrag,<lb/>
den Mancinus 617 mit den Numantinern abschlo&#x017F;s, war wesent-<lb/>
lich Gracchus Werk; da&#x017F;s der Senat ihn cassirt hatte, da&#x017F;s der<lb/>
Feldherr de&#x017F;swegen den Feinden ausgeliefert worden und Grac-<lb/>
chus mit den höheren Offizieren dem gleichen Schicksal nur<lb/>
durch die grö&#x017F;sere Gunst, deren er bei der Bürgerschaft geno&#x017F;s,<lb/>
entgangen war, konnte den jungen rechtschaffenen und stolzen<lb/>
Mann nicht milder stimmen gegen die herrschende Aristokratie.<lb/>
Die hellenischen Rhetoren, mit denen er gern philosophirte und<lb/>
politisirte, der Mytilenaeer Diophanes, der Kumaner Gaius Blos-<lb/>
sius, nährten in seiner Seele die Ideale, mit denen er sich trug;<lb/>
als seine Absichten in weiteren Kreisen bekannt wurden, fehlte<lb/>
es nicht an billigenden Stimmen und mancher öffentliche An-<lb/>
schlag forderte den Enkel des Africaners auf des armen Volkes,<lb/>
der Rettung Italiens zu gedenken.</p><lb/>
          <p>Am 10 December 620 übernahm Tiberius Gracchus das<lb/>
Volkstribunat. Es war die Zeit, wo die entsetzlichen Folgen der<lb/>
bisherigen Mi&#x017F;sregierung, der politische, militärische, ökonomi-<lb/>
sche, sittliche Verfall der Bürgerschaft nackt und blo&#x017F;s Jeder-<lb/>
mann vor Augen lagen. Von den beiden Consuln dieses Jahres<lb/>
focht der eine ohne Erfolg in Sicilien gegen die aufständischen<lb/>
Sclaven und war der andere, Scipio Aemilianus, seit Monaten<lb/>
beschäftigt eine kleine spanische Landschaft nicht zu besiegen,<lb/>
sondern zu erdrücken. Wenn es noch einer besonderen Auffor-<lb/>
derung bedurfte um Gracchus zu bestimmen seinen Entschlu&#x017F;s<lb/>
zur That werden zu lassen, sie lag in diesen jedes Patrioten<lb/>
Gemüth mit unnennbarer Angst erfüllenden Zuständen. Sein<lb/>
Schwiegervater versprach Beistand mit Rath und That; man<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[80/0090] VIERTES BUCH. KAPITEL II. und oberster Pontifex war. Sogar sein Bruder Publius Mucius Scaevola, der Begründer der wissenschaftlichen Jurisprudenz in Rom, dessen Stimme von um so gröſserem Gewicht war, als er gewissermaſsen auſserhalb der Parteien stand, schien dem Re- formplan nicht abgeneigt; ähnlich dachte Quintus Metellus, der Ueberwinder Makedoniens und der Achäer, mehr noch als sei- ner Kriegsthaten halber hochgeachtet als ein Muster alter Zucht und Sitte in seinem häuslichen wie in seinem öffentlichen Leben. Tiberius Gracchus stand diesen Männern nah, namentlich dem Claudius, dessen Tochter er, und dem Mucianus, dessen Tochter sein Bruder zum Weib genommen hatte; es war kein Wunder, daſs der Gedanke sich in ihm regte den Reformplan selber wie- der aufzunehmen, sobald er sich in einer Stellung befinden werde die ihm verfassungsmäſsig die Initiative gestatte. Persön- liche Motive mochten hierin ihn bestärken. Der Friedensvertrag, den Mancinus 617 mit den Numantinern abschloſs, war wesent- lich Gracchus Werk; daſs der Senat ihn cassirt hatte, daſs der Feldherr deſswegen den Feinden ausgeliefert worden und Grac- chus mit den höheren Offizieren dem gleichen Schicksal nur durch die gröſsere Gunst, deren er bei der Bürgerschaft genoſs, entgangen war, konnte den jungen rechtschaffenen und stolzen Mann nicht milder stimmen gegen die herrschende Aristokratie. Die hellenischen Rhetoren, mit denen er gern philosophirte und politisirte, der Mytilenaeer Diophanes, der Kumaner Gaius Blos- sius, nährten in seiner Seele die Ideale, mit denen er sich trug; als seine Absichten in weiteren Kreisen bekannt wurden, fehlte es nicht an billigenden Stimmen und mancher öffentliche An- schlag forderte den Enkel des Africaners auf des armen Volkes, der Rettung Italiens zu gedenken. Am 10 December 620 übernahm Tiberius Gracchus das Volkstribunat. Es war die Zeit, wo die entsetzlichen Folgen der bisherigen Miſsregierung, der politische, militärische, ökonomi- sche, sittliche Verfall der Bürgerschaft nackt und bloſs Jeder- mann vor Augen lagen. Von den beiden Consuln dieses Jahres focht der eine ohne Erfolg in Sicilien gegen die aufständischen Sclaven und war der andere, Scipio Aemilianus, seit Monaten beschäftigt eine kleine spanische Landschaft nicht zu besiegen, sondern zu erdrücken. Wenn es noch einer besonderen Auffor- derung bedurfte um Gracchus zu bestimmen seinen Entschluſs zur That werden zu lassen, sie lag in diesen jedes Patrioten Gemüth mit unnennbarer Angst erfüllenden Zuständen. Sein Schwiegervater versprach Beistand mit Rath und That; man

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/90
Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/90>, abgerufen am 24.11.2024.