Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

ERZIEHUNG.
Rede noch in den lateinischen Redeunterricht eingedrungen. In
den neuen lateinischen Rhetorschulen aber wurden die römischen
Jungen zu Männern und Staatsrednern dadurch gebildet, dass sie
paarweise den bei der Leiche des Aias mit dem blutigen Schwerte
desselben gefundenen Odysseus der Ermordung seines Waffen-
gefährten anklagten und dagegen ihn vertheidigten; dass sie den
Orestes wegen Muttermordes angriffen oder in Schutz nahmen;
dass sie vielleicht auch dem Hannibal nachträglich mit einem
guten Rath darüber aushalfen, ob er besser thue der Vorladung
nach Rom Folge zu leisten oder in Karthago zu bleiben oder die
Flucht zu ergreifen. Es ist begreiflich, dass gegen diese wider-
wärtigen und verderblichen Wortmühlen noch einmal die cato-
nische Opposition sich regte. Die Censoren des J. 662 erliessen
eine Warnung an Lehrer und Aeltern die jungen Menschen nicht
den ganzen Tag mit Uebungen hinbringen zu lassen, von denen
die Vorfahren nichts gewusst hätten; und der Mann, von dem
diese Warnung kam, war kein geringerer als der erste Gerichts-
redner seiner Zeit, Lucius Licinius Crassus. Natürlich sprach die
Kassandra vergebens; die lateinischen Declamirübungen über die
gangbaren griechischen Schulthemen wurden ein bleibender Be-
standtheil des römischen Jugendunterrichts und thaten das Ihrige
um schon die Knaben zu advocatischen und politischen Schau-
spielern zu erziehen und jede ernste und wahre Beredsamkeit im
Keime zu vernichten. -- Als Gesammtergebniss aber dieser mo-
dernen römischen Erziehung entwickelte sich der neue Begriff
der sogenannten ,Menschlichkeit', der Humanität, welche be-
stand theils in der mehr oder minder oberflächlich angeeigneten
musischen Bildung der Hellenen, theils in einer dieser nachgebil-
deten oder nachgestümperten privilegirten lateinischen. Diese
neue Humanität sagte, wie schon der Name andeutet, sich los
von dem specifisch römischen Wesen, ja trat dagegen in Oppo-
sition und vereinigte in sich, eben wie unsere eng verwandte ,all-
gemeine Bildung', einen nationell kosmopolitischen und social
exclusiven Charakter. Auch hier war die Revolution, die die
Stände schied und die Völker nivellirte.


ERZIEHUNG.
Rede noch in den lateinischen Redeunterricht eingedrungen. In
den neuen lateinischen Rhetorschulen aber wurden die römischen
Jungen zu Männern und Staatsrednern dadurch gebildet, daſs sie
paarweise den bei der Leiche des Aias mit dem blutigen Schwerte
desselben gefundenen Odysseus der Ermordung seines Waffen-
gefährten anklagten und dagegen ihn vertheidigten; daſs sie den
Orestes wegen Muttermordes angriffen oder in Schutz nahmen;
daſs sie vielleicht auch dem Hannibal nachträglich mit einem
guten Rath darüber aushalfen, ob er besser thue der Vorladung
nach Rom Folge zu leisten oder in Karthago zu bleiben oder die
Flucht zu ergreifen. Es ist begreiflich, daſs gegen diese wider-
wärtigen und verderblichen Wortmühlen noch einmal die cato-
nische Opposition sich regte. Die Censoren des J. 662 erlieſsen
eine Warnung an Lehrer und Aeltern die jungen Menschen nicht
den ganzen Tag mit Uebungen hinbringen zu lassen, von denen
die Vorfahren nichts gewuſst hätten; und der Mann, von dem
diese Warnung kam, war kein geringerer als der erste Gerichts-
redner seiner Zeit, Lucius Licinius Crassus. Natürlich sprach die
Kassandra vergebens; die lateinischen Declamirübungen über die
gangbaren griechischen Schulthemen wurden ein bleibender Be-
standtheil des römischen Jugendunterrichts und thaten das Ihrige
um schon die Knaben zu advocatischen und politischen Schau-
spielern zu erziehen und jede ernste und wahre Beredsamkeit im
Keime zu vernichten. — Als Gesammtergebniſs aber dieser mo-
dernen römischen Erziehung entwickelte sich der neue Begriff
der sogenannten ‚Menschlichkeit‘, der Humanität, welche be-
stand theils in der mehr oder minder oberflächlich angeeigneten
musischen Bildung der Hellenen, theils in einer dieser nachgebil-
deten oder nachgestümperten privilegirten lateinischen. Diese
neue Humanität sagte, wie schon der Name andeutet, sich los
von dem specifisch römischen Wesen, ja trat dagegen in Oppo-
sition und vereinigte in sich, eben wie unsere eng verwandte ‚all-
gemeine Bildung‘, einen nationell kosmopolitischen und social
exclusiven Charakter. Auch hier war die Revolution, die die
Stände schied und die Völker nivellirte.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0419" n="409"/><fw place="top" type="header">ERZIEHUNG.</fw><lb/>
Rede noch in den lateinischen Redeunterricht eingedrungen. In<lb/>
den neuen lateinischen Rhetorschulen aber wurden die römischen<lb/>
Jungen zu Männern und Staatsrednern dadurch gebildet, da&#x017F;s sie<lb/>
paarweise den bei der Leiche des Aias mit dem blutigen Schwerte<lb/>
desselben gefundenen Odysseus der Ermordung seines Waffen-<lb/>
gefährten anklagten und dagegen ihn vertheidigten; da&#x017F;s sie den<lb/>
Orestes wegen Muttermordes angriffen oder in Schutz nahmen;<lb/>
da&#x017F;s sie vielleicht auch dem Hannibal nachträglich mit einem<lb/>
guten Rath darüber aushalfen, ob er besser thue der Vorladung<lb/>
nach Rom Folge zu leisten oder in Karthago zu bleiben oder die<lb/>
Flucht zu ergreifen. Es ist begreiflich, da&#x017F;s gegen diese wider-<lb/>
wärtigen und verderblichen Wortmühlen noch einmal die cato-<lb/>
nische Opposition sich regte. Die Censoren des J. 662 erlie&#x017F;sen<lb/>
eine Warnung an Lehrer und Aeltern die jungen Menschen nicht<lb/>
den ganzen Tag mit Uebungen hinbringen zu lassen, von denen<lb/>
die Vorfahren nichts gewu&#x017F;st hätten; und der Mann, von dem<lb/>
diese Warnung kam, war kein geringerer als der erste Gerichts-<lb/>
redner seiner Zeit, Lucius Licinius Crassus. Natürlich sprach die<lb/>
Kassandra vergebens; die lateinischen Declamirübungen über die<lb/>
gangbaren griechischen Schulthemen wurden ein bleibender Be-<lb/>
standtheil des römischen Jugendunterrichts und thaten das Ihrige<lb/>
um schon die Knaben zu advocatischen und politischen Schau-<lb/>
spielern zu erziehen und jede ernste und wahre Beredsamkeit im<lb/>
Keime zu vernichten. &#x2014; Als Gesammtergebni&#x017F;s aber dieser mo-<lb/>
dernen römischen Erziehung entwickelte sich der neue Begriff<lb/>
der sogenannten &#x201A;Menschlichkeit&#x2018;, der Humanität, welche be-<lb/>
stand theils in der mehr oder minder oberflächlich angeeigneten<lb/>
musischen Bildung der Hellenen, theils in einer dieser nachgebil-<lb/>
deten oder nachgestümperten privilegirten lateinischen. Diese<lb/>
neue Humanität sagte, wie schon der Name andeutet, sich los<lb/>
von dem specifisch römischen Wesen, ja trat dagegen in Oppo-<lb/>
sition und vereinigte in sich, eben wie unsere eng verwandte &#x201A;all-<lb/>
gemeine Bildung&#x2018;, einen nationell kosmopolitischen und social<lb/>
exclusiven Charakter. Auch hier war die Revolution, die die<lb/>
Stände schied und die Völker nivellirte.</p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[409/0419] ERZIEHUNG. Rede noch in den lateinischen Redeunterricht eingedrungen. In den neuen lateinischen Rhetorschulen aber wurden die römischen Jungen zu Männern und Staatsrednern dadurch gebildet, daſs sie paarweise den bei der Leiche des Aias mit dem blutigen Schwerte desselben gefundenen Odysseus der Ermordung seines Waffen- gefährten anklagten und dagegen ihn vertheidigten; daſs sie den Orestes wegen Muttermordes angriffen oder in Schutz nahmen; daſs sie vielleicht auch dem Hannibal nachträglich mit einem guten Rath darüber aushalfen, ob er besser thue der Vorladung nach Rom Folge zu leisten oder in Karthago zu bleiben oder die Flucht zu ergreifen. Es ist begreiflich, daſs gegen diese wider- wärtigen und verderblichen Wortmühlen noch einmal die cato- nische Opposition sich regte. Die Censoren des J. 662 erlieſsen eine Warnung an Lehrer und Aeltern die jungen Menschen nicht den ganzen Tag mit Uebungen hinbringen zu lassen, von denen die Vorfahren nichts gewuſst hätten; und der Mann, von dem diese Warnung kam, war kein geringerer als der erste Gerichts- redner seiner Zeit, Lucius Licinius Crassus. Natürlich sprach die Kassandra vergebens; die lateinischen Declamirübungen über die gangbaren griechischen Schulthemen wurden ein bleibender Be- standtheil des römischen Jugendunterrichts und thaten das Ihrige um schon die Knaben zu advocatischen und politischen Schau- spielern zu erziehen und jede ernste und wahre Beredsamkeit im Keime zu vernichten. — Als Gesammtergebniſs aber dieser mo- dernen römischen Erziehung entwickelte sich der neue Begriff der sogenannten ‚Menschlichkeit‘, der Humanität, welche be- stand theils in der mehr oder minder oberflächlich angeeigneten musischen Bildung der Hellenen, theils in einer dieser nachgebil- deten oder nachgestümperten privilegirten lateinischen. Diese neue Humanität sagte, wie schon der Name andeutet, sich los von dem specifisch römischen Wesen, ja trat dagegen in Oppo- sition und vereinigte in sich, eben wie unsere eng verwandte ‚all- gemeine Bildung‘, einen nationell kosmopolitischen und social exclusiven Charakter. Auch hier war die Revolution, die die Stände schied und die Völker nivellirte.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/419
Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/419>, abgerufen am 03.12.2024.