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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
Epoche der productiven Speculation bereits weit hinter sich und
war in dem Stadium angekommen, wo nicht bloss keine wahr-
haft neuen Systeme mehr entstehen, sondern auch die Fassungs-
kraft für die vollkommensten der älteren zu schwinden und man
auf die erst schulmässige und bald scholastische Ueberlieferung
der unvollkommneren Philosopheme der Vorfahren sich zu be-
schränken anfängt; in dem Stadium also, wo die Philosophie
statt den Geist zu vertiefen und zu befreien ihn vielmehr verflacht
und in die schlimmsten aller Fesseln, die selbstgeschmiedeten
ihn schlägt. Der Zaubertrank der Speculation, immer gefährlich,
ist, verdünnt und abgestanden, sicheres Gift. So schal und ver-
wässert reichten die gleichzeitigen Griechen ihn den Römern,
und diese verstanden weder ihn zurückzuweisen noch von den
lebenden Schulmeistern auf die todten Meister zurückzugehen.
Platon und Aristoteles, um von der vorsokratischen Speculation
zu schweigen, sind ohne wesentlichen Einfluss auf die römische
Bildung geblieben, wenn gleich die erlauchten Namen gern ge-
nannt, ihre fasslicheren Schriften auch wohl gelesen und über-
setzt wurden. So wurden denn die Römer in der Philosophie
nichts als schlechter Lehrer schlechtere Schüler. Ausser der
historisch-rationalistischen Auffassung der Religion, welche die
Mythen auflöste in Lebensbeschreibungen verschiedener in grauer
Vorzeit lebender Wohlthäter des Menschengeschlechtes, aus denen
der Aberglaube Götter gemacht habe -- ein System, als dessen
litterarischer Vertreter der platte Reiseroman des Euhemeros von
Messene (um 450 d. St.) angesehen zu werden pflegt --, sind
hauptsächlich drei Philosophenschulen für Italien von Bedeutung
geworden: die beiden dogmatischen des Epikuros (+ 484) und
des Zenon (+ 491) und die skeptische des Arkesilas (+ 513)
und Karneades (541-625), oder mit den Schulnamen der Epi-
kureismus, die Stoa und die neuere Akademie. Die letzte dieser
Richtungen, welche von der Unmöglichkeit des überzeugten Wis-
sens ausging und an dessen Stelle nur ein für das praktische Be-
dürfniss ausreichendes vorläufiges Meinen gestattete, bewegte
sich hauptsächlich polemisch, indem sie jeden Satz des positiven
Glaubens wie des philosophischen Dogmatismus in den Schlingen
ihrer Dilemmen fing. Sie steht in sofern ungefähr auf einer Linie
mit der ältern Sophistik, nur dass die Sophisten begreiflicher Weise
mehr gegen den Volksglauben, Karneades und die Seinen mehr
gegen ihre philosophischen Collegen ankämpften. Dagegen tra-
fen Epikuros und Zenon überein sowohl in dem Ziel einer
rationellen Erklärung des Wesens der Dinge als auch in der

VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
Epoche der productiven Speculation bereits weit hinter sich und
war in dem Stadium angekommen, wo nicht bloſs keine wahr-
haft neuen Systeme mehr entstehen, sondern auch die Fassungs-
kraft für die vollkommensten der älteren zu schwinden und man
auf die erst schulmäſsige und bald scholastische Ueberlieferung
der unvollkommneren Philosopheme der Vorfahren sich zu be-
schränken anfängt; in dem Stadium also, wo die Philosophie
statt den Geist zu vertiefen und zu befreien ihn vielmehr verflacht
und in die schlimmsten aller Fesseln, die selbstgeschmiedeten
ihn schlägt. Der Zaubertrank der Speculation, immer gefährlich,
ist, verdünnt und abgestanden, sicheres Gift. So schal und ver-
wässert reichten die gleichzeitigen Griechen ihn den Römern,
und diese verstanden weder ihn zurückzuweisen noch von den
lebenden Schulmeistern auf die todten Meister zurückzugehen.
Platon und Aristoteles, um von der vorsokratischen Speculation
zu schweigen, sind ohne wesentlichen Einfluſs auf die römische
Bildung geblieben, wenn gleich die erlauchten Namen gern ge-
nannt, ihre faſslicheren Schriften auch wohl gelesen und über-
setzt wurden. So wurden denn die Römer in der Philosophie
nichts als schlechter Lehrer schlechtere Schüler. Auſser der
historisch-rationalistischen Auffassung der Religion, welche die
Mythen auflöste in Lebensbeschreibungen verschiedener in grauer
Vorzeit lebender Wohlthäter des Menschengeschlechtes, aus denen
der Aberglaube Götter gemacht habe — ein System, als dessen
litterarischer Vertreter der platte Reiseroman des Euhemeros von
Messene (um 450 d. St.) angesehen zu werden pflegt —, sind
hauptsächlich drei Philosophenschulen für Italien von Bedeutung
geworden: die beiden dogmatischen des Epikuros († 484) und
des Zenon († 491) und die skeptische des Arkesilas († 513)
und Karneades (541-625), oder mit den Schulnamen der Epi-
kureismus, die Stoa und die neuere Akademie. Die letzte dieser
Richtungen, welche von der Unmöglichkeit des überzeugten Wis-
sens ausging und an dessen Stelle nur ein für das praktische Be-
dürfniſs ausreichendes vorläufiges Meinen gestattete, bewegte
sich hauptsächlich polemisch, indem sie jeden Satz des positiven
Glaubens wie des philosophischen Dogmatismus in den Schlingen
ihrer Dilemmen fing. Sie steht in sofern ungefähr auf einer Linie
mit der ältern Sophistik, nur daſs die Sophisten begreiflicher Weise
mehr gegen den Volksglauben, Karneades und die Seinen mehr
gegen ihre philosophischen Collegen ankämpften. Dagegen tra-
fen Epikuros und Zenon überein sowohl in dem Ziel einer
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[392/0402] VIERTES BUCH. KAPITEL XII. Epoche der productiven Speculation bereits weit hinter sich und war in dem Stadium angekommen, wo nicht bloſs keine wahr- haft neuen Systeme mehr entstehen, sondern auch die Fassungs- kraft für die vollkommensten der älteren zu schwinden und man auf die erst schulmäſsige und bald scholastische Ueberlieferung der unvollkommneren Philosopheme der Vorfahren sich zu be- schränken anfängt; in dem Stadium also, wo die Philosophie statt den Geist zu vertiefen und zu befreien ihn vielmehr verflacht und in die schlimmsten aller Fesseln, die selbstgeschmiedeten ihn schlägt. Der Zaubertrank der Speculation, immer gefährlich, ist, verdünnt und abgestanden, sicheres Gift. So schal und ver- wässert reichten die gleichzeitigen Griechen ihn den Römern, und diese verstanden weder ihn zurückzuweisen noch von den lebenden Schulmeistern auf die todten Meister zurückzugehen. Platon und Aristoteles, um von der vorsokratischen Speculation zu schweigen, sind ohne wesentlichen Einfluſs auf die römische Bildung geblieben, wenn gleich die erlauchten Namen gern ge- nannt, ihre faſslicheren Schriften auch wohl gelesen und über- setzt wurden. So wurden denn die Römer in der Philosophie nichts als schlechter Lehrer schlechtere Schüler. Auſser der historisch-rationalistischen Auffassung der Religion, welche die Mythen auflöste in Lebensbeschreibungen verschiedener in grauer Vorzeit lebender Wohlthäter des Menschengeschlechtes, aus denen der Aberglaube Götter gemacht habe — ein System, als dessen litterarischer Vertreter der platte Reiseroman des Euhemeros von Messene (um 450 d. St.) angesehen zu werden pflegt —, sind hauptsächlich drei Philosophenschulen für Italien von Bedeutung geworden: die beiden dogmatischen des Epikuros († 484) und des Zenon († 491) und die skeptische des Arkesilas († 513) und Karneades (541-625), oder mit den Schulnamen der Epi- kureismus, die Stoa und die neuere Akademie. Die letzte dieser Richtungen, welche von der Unmöglichkeit des überzeugten Wis- sens ausging und an dessen Stelle nur ein für das praktische Be- dürfniſs ausreichendes vorläufiges Meinen gestattete, bewegte sich hauptsächlich polemisch, indem sie jeden Satz des positiven Glaubens wie des philosophischen Dogmatismus in den Schlingen ihrer Dilemmen fing. Sie steht in sofern ungefähr auf einer Linie mit der ältern Sophistik, nur daſs die Sophisten begreiflicher Weise mehr gegen den Volksglauben, Karneades und die Seinen mehr gegen ihre philosophischen Collegen ankämpften. Dagegen tra- fen Epikuros und Zenon überein sowohl in dem Ziel einer rationellen Erklärung des Wesens der Dinge als auch in der

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 392. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/402>, abgerufen am 22.11.2024.