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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
Oligarchie mit den Comitien zu regieren ward eher gemindert als
gesteigert durch die unbeschränkte Zulassung der Freigelassenen,
welche ja zu einem sehr grossen Theil von den regierenden Fa-
milien persönlich und ökonomisch abhängig waren und richtig
verwandt eben ein Mittel für die Regierung abgeben konnten die
Wahlen gründlicher zu beherrschen. Wider die Tendenzen der
reformistisch gesinnten Aristokratie lief diese Massregel allerdings
wie jede andere politische Begünstigung des Proletariats; allein
sie war auch für Rufus schwerlich etwas anderes als was das
Getreidegesetz für Drusus gewesen war: ein Mittel um das Prole-
tariat auf seine Seite zu ziehen und mit dessen Hülfe den Wider-
stand gegen die beabsichtigten Reformen zu brechen. Es liess
sich leicht voraussehen, dass dieser nicht gering sein, dass die
bornirte Aristokratie und die bornirte Bourgeoisie eben densel-
ben stumpfsinnigen Neid wie vor dem Ausbruch der Insurrection
jetzt nach ihrer Ueberwindung bethätigen, dass die grosse Majo-
rität aller Parteien die im Augenblick der furchtbarsten Gefahr
gemachten halben Zugeständnisse im Stillen oder auch laut als
unzeitige Nachgiebigkeit bezeichnen und jeder Ausdehnung der-
selben sich leidenschaftlich widersetzen werde. Drusus Beispiel
hatte gezeigt, was dabei herauskam, wenn man conservative Re-
formen mit Hülfe der Senatsmajorität durchzusetzen unternahm;
es war vollkommen erklärlich, dass sein Freund und Gesinnungs-
genosse in entschiedenster Opposition gegen die Senatsmajorität
und in den Formen der Demagogie verwandte Absichten zu rea-
lisiren versuchte. Rufus gab demnach sich keine Mühe durch den
Köder der Geschwornengerichte die Senatsmajorität für sich zu
gewinnen. Besseren Rückhalt fand er an den Freigelassenen und
vor allem an dem bewaffneten Gefolg -- dem Bericht seiner Geg-
ner zufolge bestand es aus 3000 gedungenen Leuten und einem
,Gegensenat' von 600 jungen Männern aus der besseren Klasse
--, mit dem er in den Strassen und auf dem Markte erschien.
Seine Anträge stiessen denn auch auf den entschiedensten Wi-
derstand bei der Majorität des Senats, welche zunächst um Zeit
zu gewinnen die Consuln Lucius Cornelius Sulla und Quin-
tus Pompeius Rufus, beides entschiedene Gegner der Dema-
gogie, bewog ausserordentliche religiöse Festlichkeiten anzu-
ordnen, während deren die Volksversammlungen ruhten. Ru-
fus antwortete mit einem sehr heftigen Aufstand, bei welchem
unter andern Opfern der junge Quintus Pompeius, der Sohn
des einen und Schwiegersohn des andern Consuls, den Tod
fand und das Leben der beiden Consuln selbst ernstlich bedroht

VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
Oligarchie mit den Comitien zu regieren ward eher gemindert als
gesteigert durch die unbeschränkte Zulassung der Freigelassenen,
welche ja zu einem sehr groſsen Theil von den regierenden Fa-
milien persönlich und ökonomisch abhängig waren und richtig
verwandt eben ein Mittel für die Regierung abgeben konnten die
Wahlen gründlicher zu beherrschen. Wider die Tendenzen der
reformistisch gesinnten Aristokratie lief diese Maſsregel allerdings
wie jede andere politische Begünstigung des Proletariats; allein
sie war auch für Rufus schwerlich etwas anderes als was das
Getreidegesetz für Drusus gewesen war: ein Mittel um das Prole-
tariat auf seine Seite zu ziehen und mit dessen Hülfe den Wider-
stand gegen die beabsichtigten Reformen zu brechen. Es lieſs
sich leicht voraussehen, daſs dieser nicht gering sein, daſs die
bornirte Aristokratie und die bornirte Bourgeoisie eben densel-
ben stumpfsinnigen Neid wie vor dem Ausbruch der Insurrection
jetzt nach ihrer Ueberwindung bethätigen, daſs die groſse Majo-
rität aller Parteien die im Augenblick der furchtbarsten Gefahr
gemachten halben Zugeständnisse im Stillen oder auch laut als
unzeitige Nachgiebigkeit bezeichnen und jeder Ausdehnung der-
selben sich leidenschaftlich widersetzen werde. Drusus Beispiel
hatte gezeigt, was dabei herauskam, wenn man conservative Re-
formen mit Hülfe der Senatsmajorität durchzusetzen unternahm;
es war vollkommen erklärlich, daſs sein Freund und Gesinnungs-
genosse in entschiedenster Opposition gegen die Senatsmajorität
und in den Formen der Demagogie verwandte Absichten zu rea-
lisiren versuchte. Rufus gab demnach sich keine Mühe durch den
Köder der Geschwornengerichte die Senatsmajorität für sich zu
gewinnen. Besseren Rückhalt fand er an den Freigelassenen und
vor allem an dem bewaffneten Gefolg — dem Bericht seiner Geg-
ner zufolge bestand es aus 3000 gedungenen Leuten und einem
‚Gegensenat‘ von 600 jungen Männern aus der besseren Klasse
—, mit dem er in den Straſsen und auf dem Markte erschien.
Seine Anträge stieſsen denn auch auf den entschiedensten Wi-
derstand bei der Majorität des Senats, welche zunächst um Zeit
zu gewinnen die Consuln Lucius Cornelius Sulla und Quin-
tus Pompeius Rufus, beides entschiedene Gegner der Dema-
gogie, bewog auſserordentliche religiöse Festlichkeiten anzu-
ordnen, während deren die Volksversammlungen ruhten. Ru-
fus antwortete mit einem sehr heftigen Aufstand, bei welchem
unter andern Opfern der junge Quintus Pompeius, der Sohn
des einen und Schwiegersohn des andern Consuls, den Tod
fand und das Leben der beiden Consuln selbst ernstlich bedroht

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[242/0252] VIERTES BUCH. KAPITEL VII. Oligarchie mit den Comitien zu regieren ward eher gemindert als gesteigert durch die unbeschränkte Zulassung der Freigelassenen, welche ja zu einem sehr groſsen Theil von den regierenden Fa- milien persönlich und ökonomisch abhängig waren und richtig verwandt eben ein Mittel für die Regierung abgeben konnten die Wahlen gründlicher zu beherrschen. Wider die Tendenzen der reformistisch gesinnten Aristokratie lief diese Maſsregel allerdings wie jede andere politische Begünstigung des Proletariats; allein sie war auch für Rufus schwerlich etwas anderes als was das Getreidegesetz für Drusus gewesen war: ein Mittel um das Prole- tariat auf seine Seite zu ziehen und mit dessen Hülfe den Wider- stand gegen die beabsichtigten Reformen zu brechen. Es lieſs sich leicht voraussehen, daſs dieser nicht gering sein, daſs die bornirte Aristokratie und die bornirte Bourgeoisie eben densel- ben stumpfsinnigen Neid wie vor dem Ausbruch der Insurrection jetzt nach ihrer Ueberwindung bethätigen, daſs die groſse Majo- rität aller Parteien die im Augenblick der furchtbarsten Gefahr gemachten halben Zugeständnisse im Stillen oder auch laut als unzeitige Nachgiebigkeit bezeichnen und jeder Ausdehnung der- selben sich leidenschaftlich widersetzen werde. Drusus Beispiel hatte gezeigt, was dabei herauskam, wenn man conservative Re- formen mit Hülfe der Senatsmajorität durchzusetzen unternahm; es war vollkommen erklärlich, daſs sein Freund und Gesinnungs- genosse in entschiedenster Opposition gegen die Senatsmajorität und in den Formen der Demagogie verwandte Absichten zu rea- lisiren versuchte. Rufus gab demnach sich keine Mühe durch den Köder der Geschwornengerichte die Senatsmajorität für sich zu gewinnen. Besseren Rückhalt fand er an den Freigelassenen und vor allem an dem bewaffneten Gefolg — dem Bericht seiner Geg- ner zufolge bestand es aus 3000 gedungenen Leuten und einem ‚Gegensenat‘ von 600 jungen Männern aus der besseren Klasse —, mit dem er in den Straſsen und auf dem Markte erschien. Seine Anträge stieſsen denn auch auf den entschiedensten Wi- derstand bei der Majorität des Senats, welche zunächst um Zeit zu gewinnen die Consuln Lucius Cornelius Sulla und Quin- tus Pompeius Rufus, beides entschiedene Gegner der Dema- gogie, bewog auſserordentliche religiöse Festlichkeiten anzu- ordnen, während deren die Volksversammlungen ruhten. Ru- fus antwortete mit einem sehr heftigen Aufstand, bei welchem unter andern Opfern der junge Quintus Pompeius, der Sohn des einen und Schwiegersohn des andern Consuls, den Tod fand und das Leben der beiden Consuln selbst ernstlich bedroht

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/252>, abgerufen am 25.11.2024.