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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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VIERTES BUCH. KAPITEL III.
Amt verloren habe, auf immer unfähig sein solle einen öffentli-
chen Posten zu bekleiden, nahm Gaius zurück auf Bitten seiner
Mutter und ersparte sich damit die Schande an einem Ehren-
mann, der kein bitteres Wort gegen Tiberius gesprochen und nur
verfassungs- und, wie er die Pflicht verstand, pflichtgemäss ge-
handelt hatte, niedrige Rache zu nehmen und durch solche Lega-
lisirung einer notorischen Verfassungsverletzung das Recht offen
zu verhöhnen. Aber von ganz anderer Wichtigkeit als diese
Massregeln war Gaius Plan, dessen Realisirung freilich zweifel-
haft ist, den Senat durch 300 neue Mitglieder, das heisst unge-
fähr eben so viele als er bisher hatte, zu verstärken und diese
aus dem Ritterstand durch die Comitien wählen zu lassen --
eine Pairscreirung im umfassendsten Stil, die den Senat in die
vollständigste Abhängigkeit von dem Staatsoberhaupt gebracht
haben würde.

Dies ist die Staatsverfassung, welche Gaius Gracchus ent-
worfen und während der beiden Jahre seines Volkstribunats
(631. 632) in ihren wesentlichsten Puncten durchgeführt hat,
so weit wir sehen ohne auf irgend einen nennenswerthen Wider-
stand zu stossen und ohne zur Erreichung seiner Zwecke Gewalt
anwenden zu müssen. Die Reihenfolge, in der diese Massregeln
durchgebracht sind, lässt in der sehr zerütteten Ueberlieferung
sich nicht mehr erkennen und auf manche nahe liegende Frage
müssen wir die Antwort schuldig bleiben; es scheint indess nicht,
dass uns mit dem Fehlenden sehr wesentliche Momente entgan-
gen sind, da über die Hauptsachen vollkommen sichere Kunde
vorliegt und Gaius keineswegs wie sein Bruder durch den Strom
der Ereignisse weiter und weiter gedrängt ward, sondern offen-
bar einen umfassenden wohl überlegten Plan in einer Reihe von
Specialgesetzen im Wesentlichen vollständig realisirte. -- Dass
diese Verfassung nun keineswegs, wie viele gutmüthige Leute in
alter und neuer Zeit gemeint haben, die römische Republik auf
neue demokratische Basen stellen, sondern vielmehr sie abschaf-
fen und in der Form eines durch stehende Wiederwahl lebens-
länglich und durch unbedingte Beherrschung des formellen Sou-
veräns absolut erklärten Amtes, eines unumschränkten Volkstri-
bunats auf Lebenszeit anstatt der Republik die Tyrannis, das heisst
nach heutigem Sprachgebrauch die nicht feudalistische und nicht
theokratische, die napoleonische Monarchie einführen sollte, das
offenbart die sempronische Verfassung selbst mit voller Deut-
lichkeit einem jeden, der Augen hat und haben will. In der That,
wenn Gracchus, wie seine Worte deutlich und deutlicher seine

VIERTES BUCH. KAPITEL III.
Amt verloren habe, auf immer unfähig sein solle einen öffentli-
chen Posten zu bekleiden, nahm Gaius zurück auf Bitten seiner
Mutter und ersparte sich damit die Schande an einem Ehren-
mann, der kein bitteres Wort gegen Tiberius gesprochen und nur
verfassungs- und, wie er die Pflicht verstand, pflichtgemäſs ge-
handelt hatte, niedrige Rache zu nehmen und durch solche Lega-
lisirung einer notorischen Verfassungsverletzung das Recht offen
zu verhöhnen. Aber von ganz anderer Wichtigkeit als diese
Maſsregeln war Gaius Plan, dessen Realisirung freilich zweifel-
haft ist, den Senat durch 300 neue Mitglieder, das heiſst unge-
fähr eben so viele als er bisher hatte, zu verstärken und diese
aus dem Ritterstand durch die Comitien wählen zu lassen —
eine Pairscreirung im umfassendsten Stil, die den Senat in die
vollständigste Abhängigkeit von dem Staatsoberhaupt gebracht
haben würde.

Dies ist die Staatsverfassung, welche Gaius Gracchus ent-
worfen und während der beiden Jahre seines Volkstribunats
(631. 632) in ihren wesentlichsten Puncten durchgeführt hat,
so weit wir sehen ohne auf irgend einen nennenswerthen Wider-
stand zu stoſsen und ohne zur Erreichung seiner Zwecke Gewalt
anwenden zu müssen. Die Reihenfolge, in der diese Maſsregeln
durchgebracht sind, läſst in der sehr zerütteten Ueberlieferung
sich nicht mehr erkennen und auf manche nahe liegende Frage
müssen wir die Antwort schuldig bleiben; es scheint indeſs nicht,
daſs uns mit dem Fehlenden sehr wesentliche Momente entgan-
gen sind, da über die Hauptsachen vollkommen sichere Kunde
vorliegt und Gaius keineswegs wie sein Bruder durch den Strom
der Ereignisse weiter und weiter gedrängt ward, sondern offen-
bar einen umfassenden wohl überlegten Plan in einer Reihe von
Specialgesetzen im Wesentlichen vollständig realisirte. — Daſs
diese Verfassung nun keineswegs, wie viele gutmüthige Leute in
alter und neuer Zeit gemeint haben, die römische Republik auf
neue demokratische Basen stellen, sondern vielmehr sie abschaf-
fen und in der Form eines durch stehende Wiederwahl lebens-
länglich und durch unbedingte Beherrschung des formellen Sou-
veräns absolut erklärten Amtes, eines unumschränkten Volkstri-
bunats auf Lebenszeit anstatt der Republik die Tyrannis, das heiſst
nach heutigem Sprachgebrauch die nicht feudalistische und nicht
theokratische, die napoleonische Monarchie einführen sollte, das
offenbart die sempronische Verfassung selbst mit voller Deut-
lichkeit einem jeden, der Augen hat und haben will. In der That,
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[108/0118] VIERTES BUCH. KAPITEL III. Amt verloren habe, auf immer unfähig sein solle einen öffentli- chen Posten zu bekleiden, nahm Gaius zurück auf Bitten seiner Mutter und ersparte sich damit die Schande an einem Ehren- mann, der kein bitteres Wort gegen Tiberius gesprochen und nur verfassungs- und, wie er die Pflicht verstand, pflichtgemäſs ge- handelt hatte, niedrige Rache zu nehmen und durch solche Lega- lisirung einer notorischen Verfassungsverletzung das Recht offen zu verhöhnen. Aber von ganz anderer Wichtigkeit als diese Maſsregeln war Gaius Plan, dessen Realisirung freilich zweifel- haft ist, den Senat durch 300 neue Mitglieder, das heiſst unge- fähr eben so viele als er bisher hatte, zu verstärken und diese aus dem Ritterstand durch die Comitien wählen zu lassen — eine Pairscreirung im umfassendsten Stil, die den Senat in die vollständigste Abhängigkeit von dem Staatsoberhaupt gebracht haben würde. Dies ist die Staatsverfassung, welche Gaius Gracchus ent- worfen und während der beiden Jahre seines Volkstribunats (631. 632) in ihren wesentlichsten Puncten durchgeführt hat, so weit wir sehen ohne auf irgend einen nennenswerthen Wider- stand zu stoſsen und ohne zur Erreichung seiner Zwecke Gewalt anwenden zu müssen. Die Reihenfolge, in der diese Maſsregeln durchgebracht sind, läſst in der sehr zerütteten Ueberlieferung sich nicht mehr erkennen und auf manche nahe liegende Frage müssen wir die Antwort schuldig bleiben; es scheint indeſs nicht, daſs uns mit dem Fehlenden sehr wesentliche Momente entgan- gen sind, da über die Hauptsachen vollkommen sichere Kunde vorliegt und Gaius keineswegs wie sein Bruder durch den Strom der Ereignisse weiter und weiter gedrängt ward, sondern offen- bar einen umfassenden wohl überlegten Plan in einer Reihe von Specialgesetzen im Wesentlichen vollständig realisirte. — Daſs diese Verfassung nun keineswegs, wie viele gutmüthige Leute in alter und neuer Zeit gemeint haben, die römische Republik auf neue demokratische Basen stellen, sondern vielmehr sie abschaf- fen und in der Form eines durch stehende Wiederwahl lebens- länglich und durch unbedingte Beherrschung des formellen Sou- veräns absolut erklärten Amtes, eines unumschränkten Volkstri- bunats auf Lebenszeit anstatt der Republik die Tyrannis, das heiſst nach heutigem Sprachgebrauch die nicht feudalistische und nicht theokratische, die napoleonische Monarchie einführen sollte, das offenbart die sempronische Verfassung selbst mit voller Deut- lichkeit einem jeden, der Augen hat und haben will. In der That, wenn Gracchus, wie seine Worte deutlich und deutlicher seine

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/118>, abgerufen am 24.11.2024.