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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
geschlossen um nicht jeder Capacität Raum in seinem Schosse
zu gönnen und fest genug zusammengeschaart um politische
Routine und politische Tradition in sich zu bilden, rechtfer-
tigte er in dem hannibalischen und den daraus ferner sich
entspinnenden Kriegen glänzend vor der Welt seine Befugniss
sie zu beherrschen. Wären daneben die Bürgerversammlun-
gen bloss nichtig gewesen, so hätte man sie immerhin den
Souverain repräsentiren lassen mögen; allein wenn die sou-
veraine Behörde unmündig ist und dennoch nicht mundtodt,
so fehlt es ihr nicht an Vertretern, die als den Willen des
höchstgebietenden Herrn den ihrigen proclamiren. Jede Mi-
norität im Senat konnte der Majorität gegenüber appelliren
an die Comitien; jedem einzelnen Mann, der die leichte Kunst
besass unmündigen Ohren zu predigen oder auch nur Geld
wegzuwerfen, war das Mittel an die Hand gegeben einen Be-
schluss zu erwirken, dem Beamte und Senat formell sich fü-
gen mussten. Solches Beginnen mochte loyal und zweckmässig
sein, so lange die Bürgerversammlung wirklich im Stande war
zu regieren; aber da dies anerkannter Massen nicht mehr der
Fall war, so thut man dieser ,populären Partei', wie sie sich
nannte, viel zu viel Ehre an, wenn man sie eine demokrati-
sche nennt -- sie verhält sich zu der Demokratie wie das
Günstlings- und Mätressenregiment zum Royalismus. Ihr Ziel
war nicht die Herrschaft des Volkes zu gründen, sondern die
des Senats zu stürzen und in der einen oder andern Form
die Herrschaft für sich zu usurpiren, oder vielmehr zunächst
-- denn noch war man beim Anfang -- einzelne Massregeln
im Interesse der Antragsteller gegen die Regierung durchzu-
setzen. Hieher gehören die Verhandlungen vor dem Volk
über Marcellus Oberbefehl; die Drohung Scipios sich vom
Volk das Commando übertragen zu lassen; die versuchte
Kriegserklärung gegen die Rhodier; vor allen Dingen aber die
thörichten Feldherrnwahlen, welche durch dieses System eben
dann, wenn am meisten auf sie ankam, auf jene Bürgergene-
rale fielen, die im Weinhaus Schlachtpläne auf den Tisch zu
zeichnen und auf den Kamaschendienst kraft ihres angebornen
strategischen Genies mitleidig herabzusehen gewohnt sind.
Was dabei herauskam, zeigt der erste Abschnitt des hanni-
balischen Krieges und der Krieg gegen Perseus. Immer wei-
ter dehnte die formelle Competenz des Volkes sich aus in
Justiz und Administration, namentlich hinsichtlich der Ratifi-
cation von Staatsverträgen, je weniger die Bürgerversammlung

DRITTES BUCH. KAPITEL XI.
geschlossen um nicht jeder Capacität Raum in seinem Schoſse
zu gönnen und fest genug zusammengeschaart um politische
Routine und politische Tradition in sich zu bilden, rechtfer-
tigte er in dem hannibalischen und den daraus ferner sich
entspinnenden Kriegen glänzend vor der Welt seine Befugniſs
sie zu beherrschen. Wären daneben die Bürgerversammlun-
gen bloſs nichtig gewesen, so hätte man sie immerhin den
Souverain repräsentiren lassen mögen; allein wenn die sou-
veraine Behörde unmündig ist und dennoch nicht mundtodt,
so fehlt es ihr nicht an Vertretern, die als den Willen des
höchstgebietenden Herrn den ihrigen proclamiren. Jede Mi-
norität im Senat konnte der Majorität gegenüber appelliren
an die Comitien; jedem einzelnen Mann, der die leichte Kunst
besaſs unmündigen Ohren zu predigen oder auch nur Geld
wegzuwerfen, war das Mittel an die Hand gegeben einen Be-
schluſs zu erwirken, dem Beamte und Senat formell sich fü-
gen muſsten. Solches Beginnen mochte loyal und zweckmäſsig
sein, so lange die Bürgerversammlung wirklich im Stande war
zu regieren; aber da dies anerkannter Maſsen nicht mehr der
Fall war, so thut man dieser ‚populären Partei‘, wie sie sich
nannte, viel zu viel Ehre an, wenn man sie eine demokrati-
sche nennt — sie verhält sich zu der Demokratie wie das
Günstlings- und Mätressenregiment zum Royalismus. Ihr Ziel
war nicht die Herrschaft des Volkes zu gründen, sondern die
des Senats zu stürzen und in der einen oder andern Form
die Herrschaft für sich zu usurpiren, oder vielmehr zunächst
— denn noch war man beim Anfang — einzelne Maſsregeln
im Interesse der Antragsteller gegen die Regierung durchzu-
setzen. Hieher gehören die Verhandlungen vor dem Volk
über Marcellus Oberbefehl; die Drohung Scipios sich vom
Volk das Commando übertragen zu lassen; die versuchte
Kriegserklärung gegen die Rhodier; vor allen Dingen aber die
thörichten Feldherrnwahlen, welche durch dieses System eben
dann, wenn am meisten auf sie ankam, auf jene Bürgergene-
rale fielen, die im Weinhaus Schlachtpläne auf den Tisch zu
zeichnen und auf den Kamaschendienst kraft ihres angebornen
strategischen Genies mitleidig herabzusehen gewohnt sind.
Was dabei herauskam, zeigt der erste Abschnitt des hanni-
balischen Krieges und der Krieg gegen Perseus. Immer wei-
ter dehnte die formelle Competenz des Volkes sich aus in
Justiz und Administration, namentlich hinsichtlich der Ratifi-
cation von Staatsverträgen, je weniger die Bürgerversammlung

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[606/0620] DRITTES BUCH. KAPITEL XI. geschlossen um nicht jeder Capacität Raum in seinem Schoſse zu gönnen und fest genug zusammengeschaart um politische Routine und politische Tradition in sich zu bilden, rechtfer- tigte er in dem hannibalischen und den daraus ferner sich entspinnenden Kriegen glänzend vor der Welt seine Befugniſs sie zu beherrschen. Wären daneben die Bürgerversammlun- gen bloſs nichtig gewesen, so hätte man sie immerhin den Souverain repräsentiren lassen mögen; allein wenn die sou- veraine Behörde unmündig ist und dennoch nicht mundtodt, so fehlt es ihr nicht an Vertretern, die als den Willen des höchstgebietenden Herrn den ihrigen proclamiren. Jede Mi- norität im Senat konnte der Majorität gegenüber appelliren an die Comitien; jedem einzelnen Mann, der die leichte Kunst besaſs unmündigen Ohren zu predigen oder auch nur Geld wegzuwerfen, war das Mittel an die Hand gegeben einen Be- schluſs zu erwirken, dem Beamte und Senat formell sich fü- gen muſsten. Solches Beginnen mochte loyal und zweckmäſsig sein, so lange die Bürgerversammlung wirklich im Stande war zu regieren; aber da dies anerkannter Maſsen nicht mehr der Fall war, so thut man dieser ‚populären Partei‘, wie sie sich nannte, viel zu viel Ehre an, wenn man sie eine demokrati- sche nennt — sie verhält sich zu der Demokratie wie das Günstlings- und Mätressenregiment zum Royalismus. Ihr Ziel war nicht die Herrschaft des Volkes zu gründen, sondern die des Senats zu stürzen und in der einen oder andern Form die Herrschaft für sich zu usurpiren, oder vielmehr zunächst — denn noch war man beim Anfang — einzelne Maſsregeln im Interesse der Antragsteller gegen die Regierung durchzu- setzen. Hieher gehören die Verhandlungen vor dem Volk über Marcellus Oberbefehl; die Drohung Scipios sich vom Volk das Commando übertragen zu lassen; die versuchte Kriegserklärung gegen die Rhodier; vor allen Dingen aber die thörichten Feldherrnwahlen, welche durch dieses System eben dann, wenn am meisten auf sie ankam, auf jene Bürgergene- rale fielen, die im Weinhaus Schlachtpläne auf den Tisch zu zeichnen und auf den Kamaschendienst kraft ihres angebornen strategischen Genies mitleidig herabzusehen gewohnt sind. Was dabei herauskam, zeigt der erste Abschnitt des hanni- balischen Krieges und der Krieg gegen Perseus. Immer wei- ter dehnte die formelle Competenz des Volkes sich aus in Justiz und Administration, namentlich hinsichtlich der Ratifi- cation von Staatsverträgen, je weniger die Bürgerversammlung

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 606. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/620>, abgerufen am 22.11.2024.