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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
Tendenz dieser Reform nicht allzuhoch anschlagen dürfen.
Die Reform betraf bloss die Centuriatcomitien, denen ausser
den Wahlen der Consuln und Censoren und der Entscheidung
über die Erklärung eines Angriffskrieges regelmässig keine
Fragen vorgelegt wurden; die übrigen Wahlen und die regel-
mässige Entscheidung über Gesetzvorschläge und Criminalan-
klagen kamen ohnehin schon an die nach Districten stim-
menden Tributcomitien, so dass die Reform eigentlich nichts
anderes that als den Unterschied der Centuriat- und der Tri-
butcomitien thatsächlich aufheben. Es war nicht von sehr
grossem Gewicht, dass man nicht ganz auf demselben Wege
in beiden Comitien zu gleichem Ziel kam. Die Centurien
schlossen grundsätzlich die unter dem Minimalcensus ge-
schätzten und die freigelassenen Bürger aus, während die
Tribus alle Bürger umfassten. Aber dafür waren in den Tri-
bus alle nicht ansässigen und die meisten freigelassenen Bür-
ger in die vier städtischen Tribus zusammengedrängt, während
die ansässigen freigebornen Bürger die ein und dreissig übri-
gen inne hatten; in den Centurien dagegen standen die an-
sässigen und nichtansässigen Bürger seit Appius Claudius
Census sich gleich. Im Resultat kamen beide Stimmordnun-
gen darauf hinaus, dass diejenigen Bürger, die überhaupt ein
ernstliches Stimmrecht hatten, wesentlich unter einander gleich-
standen, die vermögenslosen und die Freigelassenen aber kein
oder doch kein wirksames Stimmrecht besassen. Anfangs
zwar wurden bei jener Reform die Freigelassenen den Frei-
geborenen gleichgestellt, aber zwanzig Jahre später (534) sie
wieder aus den Stimmabtheilungen so gut wie entfernt -- eine
Massregel, die der Censor Tiberius Sempronius Gracchus, der
Vater der beiden Urheber der römischen Revolution, im Jahre
585 gegen die immer wieder sich eindrängenden Freigelas-
senen wiederholte und schärfte. Im Ganzen blieben also
Freigelassene und Arme ausgeschlossen von der politischen
Gleichberechtigung; was um so wichtiger war und um so
deutlicher als ein Sieg der conservativen Partei erschien, als
man diese zurückgesetzten Klassen zu den Staatslasten mög-
lichst mit heranzuziehen anfing. Der Minimalcensus der Le-
gionssoldaten, der früher mit dem Minimalcensus der Centu-
riatcomitien von 11000 As zusammengefallen war, wurde im
Laufe dieser Periode auf 4000 As vermindert; es wurden die
zwischen 4000 und 1500 As geschätzten Freigebornen so wie
die Freigelassenen zum Dienst auf der Flotte herangezogen, die

VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
Tendenz dieser Reform nicht allzuhoch anschlagen dürfen.
Die Reform betraf bloſs die Centuriatcomitien, denen auſser
den Wahlen der Consuln und Censoren und der Entscheidung
über die Erklärung eines Angriffskrieges regelmäſsig keine
Fragen vorgelegt wurden; die übrigen Wahlen und die regel-
mäſsige Entscheidung über Gesetzvorschläge und Criminalan-
klagen kamen ohnehin schon an die nach Districten stim-
menden Tributcomitien, so daſs die Reform eigentlich nichts
anderes that als den Unterschied der Centuriat- und der Tri-
butcomitien thatsächlich aufheben. Es war nicht von sehr
groſsem Gewicht, daſs man nicht ganz auf demselben Wege
in beiden Comitien zu gleichem Ziel kam. Die Centurien
schlossen grundsätzlich die unter dem Minimalcensus ge-
schätzten und die freigelassenen Bürger aus, während die
Tribus alle Bürger umfaſsten. Aber dafür waren in den Tri-
bus alle nicht ansässigen und die meisten freigelassenen Bür-
ger in die vier städtischen Tribus zusammengedrängt, während
die ansässigen freigebornen Bürger die ein und dreiſsig übri-
gen inne hatten; in den Centurien dagegen standen die an-
sässigen und nichtansässigen Bürger seit Appius Claudius
Census sich gleich. Im Resultat kamen beide Stimmordnun-
gen darauf hinaus, daſs diejenigen Bürger, die überhaupt ein
ernstliches Stimmrecht hatten, wesentlich unter einander gleich-
standen, die vermögenslosen und die Freigelassenen aber kein
oder doch kein wirksames Stimmrecht besaſsen. Anfangs
zwar wurden bei jener Reform die Freigelassenen den Frei-
geborenen gleichgestellt, aber zwanzig Jahre später (534) sie
wieder aus den Stimmabtheilungen so gut wie entfernt — eine
Maſsregel, die der Censor Tiberius Sempronius Gracchus, der
Vater der beiden Urheber der römischen Revolution, im Jahre
585 gegen die immer wieder sich eindrängenden Freigelas-
senen wiederholte und schärfte. Im Ganzen blieben also
Freigelassene und Arme ausgeschlossen von der politischen
Gleichberechtigung; was um so wichtiger war und um so
deutlicher als ein Sieg der conservativen Partei erschien, als
man diese zurückgesetzten Klassen zu den Staatslasten mög-
lichst mit heranzuziehen anfing. Der Minimalcensus der Le-
gionssoldaten, der früher mit dem Minimalcensus der Centu-
riatcomitien von 11000 As zusammengefallen war, wurde im
Laufe dieser Periode auf 4000 As vermindert; es wurden die
zwischen 4000 und 1500 As geschätzten Freigebornen so wie
die Freigelassenen zum Dienst auf der Flotte herangezogen, die

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[603/0617] VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE. Tendenz dieser Reform nicht allzuhoch anschlagen dürfen. Die Reform betraf bloſs die Centuriatcomitien, denen auſser den Wahlen der Consuln und Censoren und der Entscheidung über die Erklärung eines Angriffskrieges regelmäſsig keine Fragen vorgelegt wurden; die übrigen Wahlen und die regel- mäſsige Entscheidung über Gesetzvorschläge und Criminalan- klagen kamen ohnehin schon an die nach Districten stim- menden Tributcomitien, so daſs die Reform eigentlich nichts anderes that als den Unterschied der Centuriat- und der Tri- butcomitien thatsächlich aufheben. Es war nicht von sehr groſsem Gewicht, daſs man nicht ganz auf demselben Wege in beiden Comitien zu gleichem Ziel kam. Die Centurien schlossen grundsätzlich die unter dem Minimalcensus ge- schätzten und die freigelassenen Bürger aus, während die Tribus alle Bürger umfaſsten. Aber dafür waren in den Tri- bus alle nicht ansässigen und die meisten freigelassenen Bür- ger in die vier städtischen Tribus zusammengedrängt, während die ansässigen freigebornen Bürger die ein und dreiſsig übri- gen inne hatten; in den Centurien dagegen standen die an- sässigen und nichtansässigen Bürger seit Appius Claudius Census sich gleich. Im Resultat kamen beide Stimmordnun- gen darauf hinaus, daſs diejenigen Bürger, die überhaupt ein ernstliches Stimmrecht hatten, wesentlich unter einander gleich- standen, die vermögenslosen und die Freigelassenen aber kein oder doch kein wirksames Stimmrecht besaſsen. Anfangs zwar wurden bei jener Reform die Freigelassenen den Frei- geborenen gleichgestellt, aber zwanzig Jahre später (534) sie wieder aus den Stimmabtheilungen so gut wie entfernt — eine Maſsregel, die der Censor Tiberius Sempronius Gracchus, der Vater der beiden Urheber der römischen Revolution, im Jahre 585 gegen die immer wieder sich eindrängenden Freigelas- senen wiederholte und schärfte. Im Ganzen blieben also Freigelassene und Arme ausgeschlossen von der politischen Gleichberechtigung; was um so wichtiger war und um so deutlicher als ein Sieg der conservativen Partei erschien, als man diese zurückgesetzten Klassen zu den Staatslasten mög- lichst mit heranzuziehen anfing. Der Minimalcensus der Le- gionssoldaten, der früher mit dem Minimalcensus der Centu- riatcomitien von 11000 As zusammengefallen war, wurde im Laufe dieser Periode auf 4000 As vermindert; es wurden die zwischen 4000 und 1500 As geschätzten Freigebornen so wie die Freigelassenen zum Dienst auf der Flotte herangezogen, die

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 603. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/617>, abgerufen am 19.05.2024.