Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.DRITTES BUCH. KAPITEL VI. überall den Landschaften Sehnen und Nerven, sondern eshatte auch die vieljährige römische Herrschaft die Einwohner der Waffen entwöhnt -- nur mässiger Zuzug kam von hieher zu den römischen Heeren --, den alten Hass beschwichtigt, überall eine Menge Einzelner in das Interesse der herrschen- den Gemeinde gezogen. Man schloss sich wohl dem Ueber- winder der Römer an, nachdem Roms Sache einmal verloren schien; allein man fühlte doch, dass es jetzt nicht mehr um die Freiheit sich handle, sondern um die Vertauschung des italischen mit dem phoenikischen Herrn, und nicht Begeiste- rung, sondern Kleinmuth warf die sabellischen Gemeinden dem Sieger in die Arme. Unter solchen Umständen stockte in Italien der Krieg. Hannibal, der den südlichen Theil der Halbinsel beherrschte bis hinauf zum Volturnus und zum Gar- ganus und diese Landschaften keineswegs wie das Keltenland einfach wieder aufgeben konnte, hatte jetzt gleichfalls eine Grenze zu decken, die nicht ungestraft entblösst ward; und, um die gewonnenen Landschaften gegen die überall ihm trotzenden Festungen und die von Norden her anrückenden Heere zu vertheidigen und gleichzeitig die schwierige Offensive gegen Mittelitalien zu ergreifen, reichten seine Streitkräfte, ein Heer von etwa 40000 Mann ohne die italischen Zuzüge zu rechnen, bei weitem nicht aus. Es kam hinzu, dass die Römer, durch furchtbare Erfahrungen belehrt, zu einem ver- ständigeren System der Kriegführung übergingen und Feld- herren an die Spitze ihrer Heere stellten, die weder von den Bergen herab den feindlichen Operationen zusahen noch in die Ebene hinabstiegen um in der Feldschlacht mit einem Schlage den Krieg zu entscheiden, sondern in verschanzten Lagern unter den Mauern der Festungen sich aufstellend den Kampf aufnah- men, wo der Sieg zu Resultaten, die Niederlage nicht zur Ver- nichtung führte. Es war der Prätor Marcus Claudius Mar- cellus, der, nach der cannensischen Niederlage vorläufig zum factischen Oberbefehl vom Senat berufen, diese neue Kriegs- weise, die zwischen Zauderei und Vorschnelligkeit die rechte Mitte zu finden verstand, muthig und glücklich ergriff und durchzuführen begann. Und wenn die Rettung Roms aus dieser höchsten Gefahr nicht das Verdienst eines Einzelnen ist, son- dern der römischen Bürgerschaft insgemein und vorzugsweise dem Senat gebührt, so hat doch kein einzelner Mann bei dem gemeinsamen Bau mehr geschafft als Marcus Marcellus. Vom Schlachtfeld hatte Hannibal sich nach Campanien DRITTES BUCH. KAPITEL VI. überall den Landschaften Sehnen und Nerven, sondern eshatte auch die vieljährige römische Herrschaft die Einwohner der Waffen entwöhnt — nur mäſsiger Zuzug kam von hieher zu den römischen Heeren —, den alten Haſs beschwichtigt, überall eine Menge Einzelner in das Interesse der herrschen- den Gemeinde gezogen. Man schloſs sich wohl dem Ueber- winder der Römer an, nachdem Roms Sache einmal verloren schien; allein man fühlte doch, daſs es jetzt nicht mehr um die Freiheit sich handle, sondern um die Vertauschung des italischen mit dem phoenikischen Herrn, und nicht Begeiste- rung, sondern Kleinmuth warf die sabellischen Gemeinden dem Sieger in die Arme. Unter solchen Umständen stockte in Italien der Krieg. Hannibal, der den südlichen Theil der Halbinsel beherrschte bis hinauf zum Volturnus und zum Gar- ganus und diese Landschaften keineswegs wie das Keltenland einfach wieder aufgeben konnte, hatte jetzt gleichfalls eine Grenze zu decken, die nicht ungestraft entblöſst ward; und, um die gewonnenen Landschaften gegen die überall ihm trotzenden Festungen und die von Norden her anrückenden Heere zu vertheidigen und gleichzeitig die schwierige Offensive gegen Mittelitalien zu ergreifen, reichten seine Streitkräfte, ein Heer von etwa 40000 Mann ohne die italischen Zuzüge zu rechnen, bei weitem nicht aus. Es kam hinzu, daſs die Römer, durch furchtbare Erfahrungen belehrt, zu einem ver- ständigeren System der Kriegführung übergingen und Feld- herren an die Spitze ihrer Heere stellten, die weder von den Bergen herab den feindlichen Operationen zusahen noch in die Ebene hinabstiegen um in der Feldschlacht mit einem Schlage den Krieg zu entscheiden, sondern in verschanzten Lagern unter den Mauern der Festungen sich aufstellend den Kampf aufnah- men, wo der Sieg zu Resultaten, die Niederlage nicht zur Ver- nichtung führte. Es war der Prätor Marcus Claudius Mar- cellus, der, nach der cannensischen Niederlage vorläufig zum factischen Oberbefehl vom Senat berufen, diese neue Kriegs- weise, die zwischen Zauderei und Vorschnelligkeit die rechte Mitte zu finden verstand, muthig und glücklich ergriff und durchzuführen begann. Und wenn die Rettung Roms aus dieser höchsten Gefahr nicht das Verdienst eines Einzelnen ist, son- dern der römischen Bürgerschaft insgemein und vorzugsweise dem Senat gebührt, so hat doch kein einzelner Mann bei dem gemeinsamen Bau mehr geschafft als Marcus Marcellus. Vom Schlachtfeld hatte Hannibal sich nach Campanien <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0446" n="432"/><fw place="top" type="header">DRITTES BUCH. KAPITEL VI.</fw><lb/> überall den Landschaften Sehnen und Nerven, sondern es<lb/> hatte auch die vieljährige römische Herrschaft die Einwohner<lb/> der Waffen entwöhnt — nur mäſsiger Zuzug kam von hieher<lb/> zu den römischen Heeren —, den alten Haſs beschwichtigt,<lb/> überall eine Menge Einzelner in das Interesse der herrschen-<lb/> den Gemeinde gezogen. 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DRITTES BUCH. KAPITEL VI.
überall den Landschaften Sehnen und Nerven, sondern es
hatte auch die vieljährige römische Herrschaft die Einwohner
der Waffen entwöhnt — nur mäſsiger Zuzug kam von hieher
zu den römischen Heeren —, den alten Haſs beschwichtigt,
überall eine Menge Einzelner in das Interesse der herrschen-
den Gemeinde gezogen. Man schloſs sich wohl dem Ueber-
winder der Römer an, nachdem Roms Sache einmal verloren
schien; allein man fühlte doch, daſs es jetzt nicht mehr um
die Freiheit sich handle, sondern um die Vertauschung des
italischen mit dem phoenikischen Herrn, und nicht Begeiste-
rung, sondern Kleinmuth warf die sabellischen Gemeinden
dem Sieger in die Arme. Unter solchen Umständen stockte
in Italien der Krieg. Hannibal, der den südlichen Theil der
Halbinsel beherrschte bis hinauf zum Volturnus und zum Gar-
ganus und diese Landschaften keineswegs wie das Keltenland
einfach wieder aufgeben konnte, hatte jetzt gleichfalls eine
Grenze zu decken, die nicht ungestraft entblöſst ward; und,
um die gewonnenen Landschaften gegen die überall ihm
trotzenden Festungen und die von Norden her anrückenden
Heere zu vertheidigen und gleichzeitig die schwierige Offensive
gegen Mittelitalien zu ergreifen, reichten seine Streitkräfte, ein
Heer von etwa 40000 Mann ohne die italischen Zuzüge zu
rechnen, bei weitem nicht aus. Es kam hinzu, daſs die
Römer, durch furchtbare Erfahrungen belehrt, zu einem ver-
ständigeren System der Kriegführung übergingen und Feld-
herren an die Spitze ihrer Heere stellten, die weder von den
Bergen herab den feindlichen Operationen zusahen noch in die
Ebene hinabstiegen um in der Feldschlacht mit einem Schlage
den Krieg zu entscheiden, sondern in verschanzten Lagern unter
den Mauern der Festungen sich aufstellend den Kampf aufnah-
men, wo der Sieg zu Resultaten, die Niederlage nicht zur Ver-
nichtung führte. Es war der Prätor Marcus Claudius Mar-
cellus, der, nach der cannensischen Niederlage vorläufig zum
factischen Oberbefehl vom Senat berufen, diese neue Kriegs-
weise, die zwischen Zauderei und Vorschnelligkeit die rechte
Mitte zu finden verstand, muthig und glücklich ergriff und
durchzuführen begann. Und wenn die Rettung Roms aus dieser
höchsten Gefahr nicht das Verdienst eines Einzelnen ist, son-
dern der römischen Bürgerschaft insgemein und vorzugsweise
dem Senat gebührt, so hat doch kein einzelner Mann bei
dem gemeinsamen Bau mehr geschafft als Marcus Marcellus.
Vom Schlachtfeld hatte Hannibal sich nach Campanien
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