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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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HANNIBALISCHER KRIEG.
sein militärisches Genie vollständig ins Gewicht fiel. Dieses
Ziel war das von der richtigen Politik ihm gebotene, weil er, der
gewaltige Schlachtensieger, sehr deutlich einsah, dass er jedes-
mal die Generale überwand und nicht die Stadt, und nach
jeder neuen Schlacht diese den Karthagern eben so überlegen
blieb wie er seinen Gegnern. Dass Hannibal selbst auf dem
Gipfel des Glücks sich nie hierüber getäuscht hat, ist bewun-
derungswürdiger als seine bewundertsten Schlachten. -- Dies
und nicht die Bitten der Gallier, die ihn nicht bestimmen durf-
ten ist auch die Ursache, warum Hannibal seine neugewonnene
Operationsbasis gegen Italien jetzt gleichsam fallen liess und be-
beschloss den Kriegsschauplatz nach Italien selbst zu verlegen.
Vorher hiess er alle Gefangene sich vorführen; die Römer
wurden ausgesondert und mit Sclavenfesseln belastet -- dass
Hannibal alle waffenfähigen Römer, die er hier und sonst
aufgriff, habe niedermachen lassen, ist ohne Zweifel minde-
stens stark übertrieben --, dagegen die sämmtlichen italischen
Bundesgenossen ohne Lösegeld entlassen, um daheim zu be-
richten, dass Hannibal nicht gegen Italien Krieg führe, son-
dern gegen Rom; dass er jeder italischen Gemeinde die alte
Unabhängigkeit und die alten Grenzen wieder zusichere und
dass den Befreiten der Befreier auf dem Fusse folge als Retter
und als Rächer. So brach er, da der Winter zu Ende ging,
aus dem Pothal auf um sich einen Weg durch die schwie-
rigen Defileen des Apennin zu suchen. Gaius Flaminius mit
der etrurischen Armee stand vorläufig noch bei Arezzo,
vermuthlich um hier die aus den Pofestungen ihm zugeführ-
ten Truppen an sich zu ziehen und alsdann zur Deckung des
Arnothales und der Apenninpässe etwa bei Lucca sich auf-
zustellen, so wie es die Jahreszeit erlaubte. Allein Hannibal
kam ihm zuvor. Der Apenninübergang ward in möglichst
westlicher Richtung, das heisst möglichst weit vom Feinde,
ohne grosse Schwierigkeit bewerkstelligt; allein die sumpfigen
Niederungen zwischen dem Serchio und dem Arno waren
durch die Schneeschmelze und die Frühlingsregen so über-
staut, dass die Armee vier Tage im Wasser zu marschiren
hatte, ohne auch nur zur nächtlichen Rast einen trockenen
Platz anders zu finden als wo ihn das zusammengehäufte Ge-
päck und die gefallenen Saumthiere darboten. Die Truppen
litten unsäglich, namentlich das gallische Fussvolk, das hinter
dem punischen in den schon grundlosen Wegen marschirte;
es murrte laut und wäre ohne Zweifel in Masse ausgerissen,

HANNIBALISCHER KRIEG.
sein militärisches Genie vollständig ins Gewicht fiel. Dieses
Ziel war das von der richtigen Politik ihm gebotene, weil er, der
gewaltige Schlachtensieger, sehr deutlich einsah, daſs er jedes-
mal die Generale überwand und nicht die Stadt, und nach
jeder neuen Schlacht diese den Karthagern eben so überlegen
blieb wie er seinen Gegnern. Daſs Hannibal selbst auf dem
Gipfel des Glücks sich nie hierüber getäuscht hat, ist bewun-
derungswürdiger als seine bewundertsten Schlachten. — Dies
und nicht die Bitten der Gallier, die ihn nicht bestimmen durf-
ten ist auch die Ursache, warum Hannibal seine neugewonnene
Operationsbasis gegen Italien jetzt gleichsam fallen lieſs und be-
beschloſs den Kriegsschauplatz nach Italien selbst zu verlegen.
Vorher hieſs er alle Gefangene sich vorführen; die Römer
wurden ausgesondert und mit Sclavenfesseln belastet — daſs
Hannibal alle waffenfähigen Römer, die er hier und sonst
aufgriff, habe niedermachen lassen, ist ohne Zweifel minde-
stens stark übertrieben —, dagegen die sämmtlichen italischen
Bundesgenossen ohne Lösegeld entlassen, um daheim zu be-
richten, daſs Hannibal nicht gegen Italien Krieg führe, son-
dern gegen Rom; daſs er jeder italischen Gemeinde die alte
Unabhängigkeit und die alten Grenzen wieder zusichere und
daſs den Befreiten der Befreier auf dem Fuſse folge als Retter
und als Rächer. So brach er, da der Winter zu Ende ging,
aus dem Pothal auf um sich einen Weg durch die schwie-
rigen Defileen des Apennin zu suchen. Gaius Flaminius mit
der etrurischen Armee stand vorläufig noch bei Arezzo,
vermuthlich um hier die aus den Pofestungen ihm zugeführ-
ten Truppen an sich zu ziehen und alsdann zur Deckung des
Arnothales und der Apenninpässe etwa bei Lucca sich auf-
zustellen, so wie es die Jahreszeit erlaubte. Allein Hannibal
kam ihm zuvor. Der Apenninübergang ward in möglichst
westlicher Richtung, das heiſst möglichst weit vom Feinde,
ohne groſse Schwierigkeit bewerkstelligt; allein die sumpfigen
Niederungen zwischen dem Serchio und dem Arno waren
durch die Schneeschmelze und die Frühlingsregen so über-
staut, daſs die Armee vier Tage im Wasser zu marschiren
hatte, ohne auch nur zur nächtlichen Rast einen trockenen
Platz anders zu finden als wo ihn das zusammengehäufte Ge-
päck und die gefallenen Saumthiere darboten. Die Truppen
litten unsäglich, namentlich das gallische Fuſsvolk, das hinter
dem punischen in den schon grundlosen Wegen marschirte;
es murrte laut und wäre ohne Zweifel in Masse ausgerissen,

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[413/0427] HANNIBALISCHER KRIEG. sein militärisches Genie vollständig ins Gewicht fiel. Dieses Ziel war das von der richtigen Politik ihm gebotene, weil er, der gewaltige Schlachtensieger, sehr deutlich einsah, daſs er jedes- mal die Generale überwand und nicht die Stadt, und nach jeder neuen Schlacht diese den Karthagern eben so überlegen blieb wie er seinen Gegnern. Daſs Hannibal selbst auf dem Gipfel des Glücks sich nie hierüber getäuscht hat, ist bewun- derungswürdiger als seine bewundertsten Schlachten. — Dies und nicht die Bitten der Gallier, die ihn nicht bestimmen durf- ten ist auch die Ursache, warum Hannibal seine neugewonnene Operationsbasis gegen Italien jetzt gleichsam fallen lieſs und be- beschloſs den Kriegsschauplatz nach Italien selbst zu verlegen. Vorher hieſs er alle Gefangene sich vorführen; die Römer wurden ausgesondert und mit Sclavenfesseln belastet — daſs Hannibal alle waffenfähigen Römer, die er hier und sonst aufgriff, habe niedermachen lassen, ist ohne Zweifel minde- stens stark übertrieben —, dagegen die sämmtlichen italischen Bundesgenossen ohne Lösegeld entlassen, um daheim zu be- richten, daſs Hannibal nicht gegen Italien Krieg führe, son- dern gegen Rom; daſs er jeder italischen Gemeinde die alte Unabhängigkeit und die alten Grenzen wieder zusichere und daſs den Befreiten der Befreier auf dem Fuſse folge als Retter und als Rächer. So brach er, da der Winter zu Ende ging, aus dem Pothal auf um sich einen Weg durch die schwie- rigen Defileen des Apennin zu suchen. Gaius Flaminius mit der etrurischen Armee stand vorläufig noch bei Arezzo, vermuthlich um hier die aus den Pofestungen ihm zugeführ- ten Truppen an sich zu ziehen und alsdann zur Deckung des Arnothales und der Apenninpässe etwa bei Lucca sich auf- zustellen, so wie es die Jahreszeit erlaubte. Allein Hannibal kam ihm zuvor. Der Apenninübergang ward in möglichst westlicher Richtung, das heiſst möglichst weit vom Feinde, ohne groſse Schwierigkeit bewerkstelligt; allein die sumpfigen Niederungen zwischen dem Serchio und dem Arno waren durch die Schneeschmelze und die Frühlingsregen so über- staut, daſs die Armee vier Tage im Wasser zu marschiren hatte, ohne auch nur zur nächtlichen Rast einen trockenen Platz anders zu finden als wo ihn das zusammengehäufte Ge- päck und die gefallenen Saumthiere darboten. Die Truppen litten unsäglich, namentlich das gallische Fuſsvolk, das hinter dem punischen in den schon grundlosen Wegen marschirte; es murrte laut und wäre ohne Zweifel in Masse ausgerissen,

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 413. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/427>, abgerufen am 17.05.2024.