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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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tumnus, und also weiter jedem nach seiner Art. Ja es wird in
den Handlungen der einzelne Moment der Thätigkeit vergei-
stigt; so wird beispielsweise in der Fürbitte für den Landmann
angerufen der Geist der Brache, des Ackerns, des Furchens,
Säens, Zudeckens, Eggens und so fort bis zu dem des Ein-
fahrens, Aufspeicherns und des Oeffnens der Scheuer; und in
ähnlicher Weise wird Ehe, Geburt und jedes andere physische
Ereigniss mit heiligem Leben ausgestattet. Je grössere Kreise
indess die Abstraction beschreibt, desto höher steigt der Gott
und die Ehrfurcht der Menschen; so sind Iupiter und Iuno
die Abstractionen der Männlichkeit und der Weiblichkeit, Ceres
die schaffende, Minerva die erinnernde Kraft, Dea dia die
göttliche, Dea bona oder bei den Samniten Dea cupra die
gute Gottheit. Diese Götter konnten freilich nicht sich ver-
mählen und Kinder zeugen wie die hellenischen; sie wandelten
nicht ungesehen unter den Sterblichen und bedurften nicht des
Nektars. Wie den Griechen alles concret und körperlich erschien,
so konnte der Römer nur abstracte vollkommen durchsichtige
Formeln brauchen und konnte eben desshalb nicht beginnen mit
dem alten Sagenschatz der Urzeit, den er nicht mehr verstand.
Wie Indien und Iran aus einem und demselben Erbschatz jenes
die Formenfülle seiner heiligen Epen, dieses die Abstractionen
des Zendavesta entwickelte, so herrscht auch in der griechischen
Mythologie die Person, in der römischen der Begriff, dort die
Freiheit, hier die Nothwendigkeit. Jene führt zum Mythus und
zur Cultfigur und damit zur Poesie und zur Bildnerei; aber das
tiefe Gefühl des Allgemeinen im Besondern, die Hingebung
und Aufopferungsfähigkeit des Einzelnen, der Glaube an die ei-
genen Götter ist der reiche Schatz der italischen Nation.
Beide Völker haben sich einseitig entwickelt und darum beide
vollkommen; nur engherzige Armseligkeit wird den Athener
schmähen weil er seine Gemeinde nicht zu gestalten verstand
wie die Fabier und Valerier, oder den Römer, weil er nicht bilden
lernte wie Pheidias und dichten wie Aristophanes. Entschlossen
gab der Italiker die Willkür auf um der Freiheit willen und lernte
dem Vater gehorchen, damit er dem Staate zu gehorchen ver-
stände. Mochte der Einzelne bei dieser Unterthänigkeit verder-
ben und der schönste menschliche Keim darüber verkümmern:
er gewann dafür ein Vaterland und ein Vaterlandsgefühl wie der
Grieche es nie gekannt hat und errang die nationale Einheit,
die ihm endlich über den zersplitterten hellenischen Stamm und
über den ganzen Erdkreis die Botmässigkeit in die Hand legte.


AELTESTE EINWANDERUNGEN IN ITALIEN.
tumnus, und also weiter jedem nach seiner Art. Ja es wird in
den Handlungen der einzelne Moment der Thätigkeit vergei-
stigt; so wird beispielsweise in der Fürbitte für den Landmann
angerufen der Geist der Brache, des Ackerns, des Furchens,
Säens, Zudeckens, Eggens und so fort bis zu dem des Ein-
fahrens, Aufspeicherns und des Oeffnens der Scheuer; und in
ähnlicher Weise wird Ehe, Geburt und jedes andere physische
Ereigniſs mit heiligem Leben ausgestattet. Je gröſsere Kreise
indeſs die Abstraction beschreibt, desto höher steigt der Gott
und die Ehrfurcht der Menschen; so sind Iupiter und Iuno
die Abstractionen der Männlichkeit und der Weiblichkeit, Ceres
die schaffende, Minerva die erinnernde Kraft, Dea dia die
göttliche, Dea bona oder bei den Samniten Dea cupra die
gute Gottheit. Diese Götter konnten freilich nicht sich ver-
mählen und Kinder zeugen wie die hellenischen; sie wandelten
nicht ungesehen unter den Sterblichen und bedurften nicht des
Nektars. Wie den Griechen alles concret und körperlich erschien,
so konnte der Römer nur abstracte vollkommen durchsichtige
Formeln brauchen und konnte eben deſshalb nicht beginnen mit
dem alten Sagenschatz der Urzeit, den er nicht mehr verstand.
Wie Indien und Iran aus einem und demselben Erbschatz jenes
die Formenfülle seiner heiligen Epen, dieses die Abstractionen
des Zendavesta entwickelte, so herrscht auch in der griechischen
Mythologie die Person, in der römischen der Begriff, dort die
Freiheit, hier die Nothwendigkeit. Jene führt zum Mythus und
zur Cultfigur und damit zur Poesie und zur Bildnerei; aber das
tiefe Gefühl des Allgemeinen im Besondern, die Hingebung
und Aufopferungsfähigkeit des Einzelnen, der Glaube an die ei-
genen Götter ist der reiche Schatz der italischen Nation.
Beide Völker haben sich einseitig entwickelt und darum beide
vollkommen; nur engherzige Armseligkeit wird den Athener
schmähen weil er seine Gemeinde nicht zu gestalten verstand
wie die Fabier und Valerier, oder den Römer, weil er nicht bilden
lernte wie Pheidias und dichten wie Aristophanes. Entschlossen
gab der Italiker die Willkür auf um der Freiheit willen und lernte
dem Vater gehorchen, damit er dem Staate zu gehorchen ver-
stände. Mochte der Einzelne bei dieser Unterthänigkeit verder-
ben und der schönste menschliche Keim darüber verkümmern:
er gewann dafür ein Vaterland und ein Vaterlandsgefühl wie der
Grieche es nie gekannt hat und errang die nationale Einheit,
die ihm endlich über den zersplitterten hellenischen Stamm und
über den ganzen Erdkreis die Botmäſsigkeit in die Hand legte.


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[21/0035] AELTESTE EINWANDERUNGEN IN ITALIEN. tumnus, und also weiter jedem nach seiner Art. Ja es wird in den Handlungen der einzelne Moment der Thätigkeit vergei- stigt; so wird beispielsweise in der Fürbitte für den Landmann angerufen der Geist der Brache, des Ackerns, des Furchens, Säens, Zudeckens, Eggens und so fort bis zu dem des Ein- fahrens, Aufspeicherns und des Oeffnens der Scheuer; und in ähnlicher Weise wird Ehe, Geburt und jedes andere physische Ereigniſs mit heiligem Leben ausgestattet. Je gröſsere Kreise indeſs die Abstraction beschreibt, desto höher steigt der Gott und die Ehrfurcht der Menschen; so sind Iupiter und Iuno die Abstractionen der Männlichkeit und der Weiblichkeit, Ceres die schaffende, Minerva die erinnernde Kraft, Dea dia die göttliche, Dea bona oder bei den Samniten Dea cupra die gute Gottheit. Diese Götter konnten freilich nicht sich ver- mählen und Kinder zeugen wie die hellenischen; sie wandelten nicht ungesehen unter den Sterblichen und bedurften nicht des Nektars. Wie den Griechen alles concret und körperlich erschien, so konnte der Römer nur abstracte vollkommen durchsichtige Formeln brauchen und konnte eben deſshalb nicht beginnen mit dem alten Sagenschatz der Urzeit, den er nicht mehr verstand. Wie Indien und Iran aus einem und demselben Erbschatz jenes die Formenfülle seiner heiligen Epen, dieses die Abstractionen des Zendavesta entwickelte, so herrscht auch in der griechischen Mythologie die Person, in der römischen der Begriff, dort die Freiheit, hier die Nothwendigkeit. Jene führt zum Mythus und zur Cultfigur und damit zur Poesie und zur Bildnerei; aber das tiefe Gefühl des Allgemeinen im Besondern, die Hingebung und Aufopferungsfähigkeit des Einzelnen, der Glaube an die ei- genen Götter ist der reiche Schatz der italischen Nation. Beide Völker haben sich einseitig entwickelt und darum beide vollkommen; nur engherzige Armseligkeit wird den Athener schmähen weil er seine Gemeinde nicht zu gestalten verstand wie die Fabier und Valerier, oder den Römer, weil er nicht bilden lernte wie Pheidias und dichten wie Aristophanes. Entschlossen gab der Italiker die Willkür auf um der Freiheit willen und lernte dem Vater gehorchen, damit er dem Staate zu gehorchen ver- stände. Mochte der Einzelne bei dieser Unterthänigkeit verder- ben und der schönste menschliche Keim darüber verkümmern: er gewann dafür ein Vaterland und ein Vaterlandsgefühl wie der Grieche es nie gekannt hat und errang die nationale Einheit, die ihm endlich über den zersplitterten hellenischen Stamm und über den ganzen Erdkreis die Botmäſsigkeit in die Hand legte.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/35>, abgerufen am 03.12.2024.