Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.STURZ DER ETRUSKISCHEN MACHT. DIE KELTEN. schworen über die Römer ihre eigene Uebermüthigkeit undKurzsichtigkeit. -- Die keltischen Schaaren, die nach Melpums Fall über den Fluss gesetzt waren, überflutheten mit reissender Geschwindigkeit das nördliche Italien, nicht bloss das offene Gebiet am rechten Ufer des Padus und längs des adriatischen Meeres, sondern sogar auch das eigentliche Etrurien diesseit des Apennin. Das im Herzen Etruriens gelegene Clusium (Chiusi an der Grenze von Toscana und dem Kirchenstaat) ward belagert von den Senonen (363). So gedemüthigt waren die Etrusker, dass die tuskische Stadt die Zerstörer Veiis um Hülfe anrief. Es wäre vielleicht eine weise Politik gewesen dieselbe zu gewähren und zugleich die Gallier durch die Waffen und die Etrusker durch den gewährten Schutz in Abhängigkeit von Rom zu bringen; allein eine solche weit- blickende Intervention, die die Römer genöthigt haben würde einen ernsten Kampf an der tuskischen Grenze zu beginnen, lag noch nicht im Horizont ihrer damaligen Politik. So blieb nichts übrig als sich jeder Einmischung zu enthalten; allein thörichter Weise schlug man die Hülfstruppen ab und schickte Gesandte. Noch thörichter meinten diese den Kelten durch grosse Worte imponiren und, als dies fehlschlug, gegen Bar- baren ungestraft das Völkerrecht verletzen zu können, indem sie an einem Gefecht theilnahmen und der eine von ihnen darin einen gallischen Befehlshaber vom Pferde stach. Die Barbaren, die einsichtiger, gemässigter und rechtlicher ver- fuhren als die Römer, begnügten sich von diesen durch Gesandte die nothwendige Genugthuung zu heischen. Allein in Rom überwog das Mitleid gegen die Landsleute die Ge- rechtigkeit gegen die Fremden; die Genugthuung ward ver- weigert, ja nach einigen Berichten ernannte man die tapfern Vorkämpfer für das Vaterland sogar zu Consulartribunen für das Jahr 364, das in den römischen Annalen so verhängniss- voll werden sollte. Da brach der Brennus, das heisst der Heerkönig der Gallier die Belagerung von Clusium ab und der ganze Keltenschwarm -- die Zahl wird auf 170,000 Köpfe angegeben -- wandte sich gegen Rom. Solche Züge in un- bekannte und ferne Gegenden waren den Galliern geläufig, die als bewaffnete Auswandererschaaren marschirten unbe- kümmert um Deckung und Rückzug; in Rom aber ahnte man offenbar nicht das Gefährliche eines also schnellen und rück- sichtslosen Angriffs. Erst als die Gallier die Tiber überschrit- ten hatten und keine drei deutschen Meilen mehr von den STURZ DER ETRUSKISCHEN MACHT. DIE KELTEN. schworen über die Römer ihre eigene Uebermüthigkeit undKurzsichtigkeit. — Die keltischen Schaaren, die nach Melpums Fall über den Fluſs gesetzt waren, überflutheten mit reiſsender Geschwindigkeit das nördliche Italien, nicht bloſs das offene Gebiet am rechten Ufer des Padus und längs des adriatischen Meeres, sondern sogar auch das eigentliche Etrurien diesseit des Apennin. Das im Herzen Etruriens gelegene Clusium (Chiusi an der Grenze von Toscana und dem Kirchenstaat) ward belagert von den Senonen (363). So gedemüthigt waren die Etrusker, daſs die tuskische Stadt die Zerstörer Veiis um Hülfe anrief. Es wäre vielleicht eine weise Politik gewesen dieselbe zu gewähren und zugleich die Gallier durch die Waffen und die Etrusker durch den gewährten Schutz in Abhängigkeit von Rom zu bringen; allein eine solche weit- blickende Intervention, die die Römer genöthigt haben würde einen ernsten Kampf an der tuskischen Grenze zu beginnen, lag noch nicht im Horizont ihrer damaligen Politik. So blieb nichts übrig als sich jeder Einmischung zu enthalten; allein thörichter Weise schlug man die Hülfstruppen ab und schickte Gesandte. Noch thörichter meinten diese den Kelten durch groſse Worte imponiren und, als dies fehlschlug, gegen Bar- baren ungestraft das Völkerrecht verletzen zu können, indem sie an einem Gefecht theilnahmen und der eine von ihnen darin einen gallischen Befehlshaber vom Pferde stach. Die Barbaren, die einsichtiger, gemäſsigter und rechtlicher ver- fuhren als die Römer, begnügten sich von diesen durch Gesandte die nothwendige Genugthuung zu heischen. Allein in Rom überwog das Mitleid gegen die Landsleute die Ge- rechtigkeit gegen die Fremden; die Genugthuung ward ver- weigert, ja nach einigen Berichten ernannte man die tapfern Vorkämpfer für das Vaterland sogar zu Consulartribunen für das Jahr 364, das in den römischen Annalen so verhängniſs- voll werden sollte. Da brach der Brennus, das heiſst der Heerkönig der Gallier die Belagerung von Clusium ab und der ganze Keltenschwarm — die Zahl wird auf 170,000 Köpfe angegeben — wandte sich gegen Rom. Solche Züge in un- bekannte und ferne Gegenden waren den Galliern geläufig, die als bewaffnete Auswandererschaaren marschirten unbe- kümmert um Deckung und Rückzug; in Rom aber ahnte man offenbar nicht das Gefährliche eines also schnellen und rück- sichtslosen Angriffs. 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STURZ DER ETRUSKISCHEN MACHT. DIE KELTEN.
schworen über die Römer ihre eigene Uebermüthigkeit und
Kurzsichtigkeit. — Die keltischen Schaaren, die nach Melpums
Fall über den Fluſs gesetzt waren, überflutheten mit reiſsender
Geschwindigkeit das nördliche Italien, nicht bloſs das offene
Gebiet am rechten Ufer des Padus und längs des adriatischen
Meeres, sondern sogar auch das eigentliche Etrurien diesseit
des Apennin. Das im Herzen Etruriens gelegene Clusium
(Chiusi an der Grenze von Toscana und dem Kirchenstaat)
ward belagert von den Senonen (363). So gedemüthigt waren
die Etrusker, daſs die tuskische Stadt die Zerstörer Veiis um
Hülfe anrief. Es wäre vielleicht eine weise Politik gewesen
dieselbe zu gewähren und zugleich die Gallier durch die
Waffen und die Etrusker durch den gewährten Schutz in
Abhängigkeit von Rom zu bringen; allein eine solche weit-
blickende Intervention, die die Römer genöthigt haben würde
einen ernsten Kampf an der tuskischen Grenze zu beginnen,
lag noch nicht im Horizont ihrer damaligen Politik. So blieb
nichts übrig als sich jeder Einmischung zu enthalten; allein
thörichter Weise schlug man die Hülfstruppen ab und schickte
Gesandte. Noch thörichter meinten diese den Kelten durch
groſse Worte imponiren und, als dies fehlschlug, gegen Bar-
baren ungestraft das Völkerrecht verletzen zu können, indem
sie an einem Gefecht theilnahmen und der eine von ihnen
darin einen gallischen Befehlshaber vom Pferde stach. Die
Barbaren, die einsichtiger, gemäſsigter und rechtlicher ver-
fuhren als die Römer, begnügten sich von diesen durch
Gesandte die nothwendige Genugthuung zu heischen. Allein
in Rom überwog das Mitleid gegen die Landsleute die Ge-
rechtigkeit gegen die Fremden; die Genugthuung ward ver-
weigert, ja nach einigen Berichten ernannte man die tapfern
Vorkämpfer für das Vaterland sogar zu Consulartribunen für
das Jahr 364, das in den römischen Annalen so verhängniſs-
voll werden sollte. Da brach der Brennus, das heiſst der
Heerkönig der Gallier die Belagerung von Clusium ab und
der ganze Keltenschwarm — die Zahl wird auf 170,000 Köpfe
angegeben — wandte sich gegen Rom. Solche Züge in un-
bekannte und ferne Gegenden waren den Galliern geläufig,
die als bewaffnete Auswandererschaaren marschirten unbe-
kümmert um Deckung und Rückzug; in Rom aber ahnte man
offenbar nicht das Gefährliche eines also schnellen und rück-
sichtslosen Angriffs. Erst als die Gallier die Tiber überschrit-
ten hatten und keine drei deutschen Meilen mehr von den
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