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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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VOLKSTRIBUNAT UND DECEMVIRN.
Urtheils vor dem Volke zu sprechen hatten, lag es nahe, dass
sie auch zu andern Zwecken Versammlungen des Volkes an-
setzten und zu ihm sprachen oder sprechen liessen; welches
Recht durch das icilische Gesetz (262) ihnen noch besonders
gewährleistet und jedem, der dem Tribun ins Wort falle
oder das Volk auseinandergehen heisse, eine schwere Strafe
gedroht ward. Dass demnach dem Tribun nicht wohl gewehrt
werden konnte auch andere Beschlüsse als die Bestätigung
seiner Urtheilssprüche zum Antrag und zur Abstimmung zu
bringen, leuchtet ein; gültige Volksschlüsse waren derartige
,Beliebungen der Menge' (plebi scita) zwar eigentlich nicht,
allein da der Unterschied denn doch mehr formaler Natur
war, ward wenigstens von plebejischer Seite die Gültig-
keit dieser Schlüsse als autonomischer Festsetzungen der Ge-
meinde sofort in Anspruch genommen und zum Beispiel das
icilische Gesetz auf diesem Wege durchgesetzt. -- So waren
die Tribunen des Volkes bestellt dem Einzelnen zu Schirm
und Schutz, allen zur Leitung und Führung, versehen mit un-
beschränkter richterlicher Gewalt im peinlichen Verfahren um
also ihrem Befehl Nachdruck geben zu können, endlich selbst
persönlich für unverletzlich (sacrosancti) erklärt, indem das
Volk Mann für Mann für sich und seine Kinder geschworen
hatte den Tribun zu vertheidigen und wer sich an ihm ver-
griff, nicht bloss den Göttern verfallen galt, sondern auch bei
den Menschen als vogelfrei und geächtet.

Die tribunicische Gewalt ist gewissermassen das Gegen-
bild der consularischen. Der jährliche Wechsel und die Un-
absetzbarkeit sind beiden Magistraturen gemein; ebenso die
eigenthümliche Collegialität, die in jedes einzelnen Beamten
Hand die volle Machtfülle legt und bei Collisionen das Nein
dem Ja vorgehen lässt -- wesshalb, wo der Tribun verbietet,
das Verbot des Einzelnen trotz des Widerspruchs der Collegen
genügt, wo er dagegen anklagt, er durch jeden seiner Colle-
gen gehemmt werden kann. Consuln und Tribunen haben
volle und concurrirende Criminaljurisdiction; wie jenen die
beiden Quästoren, stehen diesen die beiden Aedilen hierin
zur Seite. Jene sind nothwendig Patricier, gewählt von den
wesentlich plebejischen Centurien; diese nothwendig Plebejer,
gewählt von den patricischen Curien. Jene haben die vollere
Macht, diese die unumschränktere, denn ihrem Verbot und
ihrem Gericht fügt sich der Consul, nicht aber dem Consul
sich der Tribun. So steht die positive und die negirende Macht,

Röm. Gesch. I. 12

VOLKSTRIBUNAT UND DECEMVIRN.
Urtheils vor dem Volke zu sprechen hatten, lag es nahe, daſs
sie auch zu andern Zwecken Versammlungen des Volkes an-
setzten und zu ihm sprachen oder sprechen lieſsen; welches
Recht durch das icilische Gesetz (262) ihnen noch besonders
gewährleistet und jedem, der dem Tribun ins Wort falle
oder das Volk auseinandergehen heiſse, eine schwere Strafe
gedroht ward. Daſs demnach dem Tribun nicht wohl gewehrt
werden konnte auch andere Beschlüsse als die Bestätigung
seiner Urtheilssprüche zum Antrag und zur Abstimmung zu
bringen, leuchtet ein; gültige Volksschlüsse waren derartige
‚Beliebungen der Menge‘ (plebi scita) zwar eigentlich nicht,
allein da der Unterschied denn doch mehr formaler Natur
war, ward wenigstens von plebejischer Seite die Gültig-
keit dieser Schlüsse als autonomischer Festsetzungen der Ge-
meinde sofort in Anspruch genommen und zum Beispiel das
icilische Gesetz auf diesem Wege durchgesetzt. — So waren
die Tribunen des Volkes bestellt dem Einzelnen zu Schirm
und Schutz, allen zur Leitung und Führung, versehen mit un-
beschränkter richterlicher Gewalt im peinlichen Verfahren um
also ihrem Befehl Nachdruck geben zu können, endlich selbst
persönlich für unverletzlich (sacrosancti) erklärt, indem das
Volk Mann für Mann für sich und seine Kinder geschworen
hatte den Tribun zu vertheidigen und wer sich an ihm ver-
griff, nicht bloſs den Göttern verfallen galt, sondern auch bei
den Menschen als vogelfrei und geächtet.

Die tribunicische Gewalt ist gewissermaſsen das Gegen-
bild der consularischen. Der jährliche Wechsel und die Un-
absetzbarkeit sind beiden Magistraturen gemein; ebenso die
eigenthümliche Collegialität, die in jedes einzelnen Beamten
Hand die volle Machtfülle legt und bei Collisionen das Nein
dem Ja vorgehen läſst — weſshalb, wo der Tribun verbietet,
das Verbot des Einzelnen trotz des Widerspruchs der Collegen
genügt, wo er dagegen anklagt, er durch jeden seiner Colle-
gen gehemmt werden kann. Consuln und Tribunen haben
volle und concurrirende Criminaljurisdiction; wie jenen die
beiden Quästoren, stehen diesen die beiden Aedilen hierin
zur Seite. Jene sind nothwendig Patricier, gewählt von den
wesentlich plebejischen Centurien; diese nothwendig Plebejer,
gewählt von den patricischen Curien. Jene haben die vollere
Macht, diese die unumschränktere, denn ihrem Verbot und
ihrem Gericht fügt sich der Consul, nicht aber dem Consul
sich der Tribun. So steht die positive und die negirende Macht,

Röm. Gesch. I. 12
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[177/0191] VOLKSTRIBUNAT UND DECEMVIRN. Urtheils vor dem Volke zu sprechen hatten, lag es nahe, daſs sie auch zu andern Zwecken Versammlungen des Volkes an- setzten und zu ihm sprachen oder sprechen lieſsen; welches Recht durch das icilische Gesetz (262) ihnen noch besonders gewährleistet und jedem, der dem Tribun ins Wort falle oder das Volk auseinandergehen heiſse, eine schwere Strafe gedroht ward. Daſs demnach dem Tribun nicht wohl gewehrt werden konnte auch andere Beschlüsse als die Bestätigung seiner Urtheilssprüche zum Antrag und zur Abstimmung zu bringen, leuchtet ein; gültige Volksschlüsse waren derartige ‚Beliebungen der Menge‘ (plebi scita) zwar eigentlich nicht, allein da der Unterschied denn doch mehr formaler Natur war, ward wenigstens von plebejischer Seite die Gültig- keit dieser Schlüsse als autonomischer Festsetzungen der Ge- meinde sofort in Anspruch genommen und zum Beispiel das icilische Gesetz auf diesem Wege durchgesetzt. — So waren die Tribunen des Volkes bestellt dem Einzelnen zu Schirm und Schutz, allen zur Leitung und Führung, versehen mit un- beschränkter richterlicher Gewalt im peinlichen Verfahren um also ihrem Befehl Nachdruck geben zu können, endlich selbst persönlich für unverletzlich (sacrosancti) erklärt, indem das Volk Mann für Mann für sich und seine Kinder geschworen hatte den Tribun zu vertheidigen und wer sich an ihm ver- griff, nicht bloſs den Göttern verfallen galt, sondern auch bei den Menschen als vogelfrei und geächtet. Die tribunicische Gewalt ist gewissermaſsen das Gegen- bild der consularischen. Der jährliche Wechsel und die Un- absetzbarkeit sind beiden Magistraturen gemein; ebenso die eigenthümliche Collegialität, die in jedes einzelnen Beamten Hand die volle Machtfülle legt und bei Collisionen das Nein dem Ja vorgehen läſst — weſshalb, wo der Tribun verbietet, das Verbot des Einzelnen trotz des Widerspruchs der Collegen genügt, wo er dagegen anklagt, er durch jeden seiner Colle- gen gehemmt werden kann. Consuln und Tribunen haben volle und concurrirende Criminaljurisdiction; wie jenen die beiden Quästoren, stehen diesen die beiden Aedilen hierin zur Seite. Jene sind nothwendig Patricier, gewählt von den wesentlich plebejischen Centurien; diese nothwendig Plebejer, gewählt von den patricischen Curien. Jene haben die vollere Macht, diese die unumschränktere, denn ihrem Verbot und ihrem Gericht fügt sich der Consul, nicht aber dem Consul sich der Tribun. So steht die positive und die negirende Macht, Röm. Gesch. I. 12

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/191>, abgerufen am 22.11.2024.