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Mommsen, Theodor: Auch ein Wort über unser Judenthum. Berlin, 1880.

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Stämme je anfangen sollten sich gegen einander als Fremde zu
fühlen. Wir verhehlen uns die Verschiedenheit nicht; aber wer
recht fühlt, der erfreut sich derselben, weil die vielfachen Ziele und
Verhältnisse des Großstaates den Menschen in seiner ganzen Mannich-
faltigkeit fordern und die Fülle der in unser großes und schick-
salvolles Volk gelegten Gaben und der ihm aufgelegten Verpflich-
tungen von keinem einzelnen Stamm ganz entwickelt und ganz
gelöst werden kann.

Jn wie fern stehen nun die deutschen Juden anders innerhalb
unseres Volkes als die Sachsen oder die Pommern? Es ist richtig,
daß sie Nachkommen weder von Jstaevo sind noch von Hermino und
Jngaevo; und die gemeinschaftliche Abstammung von Vater Noah
genügt freilich nicht, wenn die germanische Ahnenprobe den
Deutschen macht. Allerdings wird von der deutschen Nation noch
allerlei mehr abfallen als die Kinder Jsraels, wenn ihr heutiger
Bestand nach Tacitus Germania durchcorrigirt wird. Herr
Quatrefages hat vor Jahren nachgewiesen, daß nur die Mittel-
staaten wirklich germanisch seien und la race prussienne eine
Masse, zu der verkommene Slaven und allerlei anderer Abfall der
Menschheit sich vereinigt habe; als späterhin la race germanique
und la race prussienne in den Fall kamen der großen Nation
gemeinschaftlich den Marsch zu machen, ist im Laufen vor beiden
kein Unterschied wahrgenommen worden. Wer die Geschichte wirk-
lich kennt, der weiß es, daß die Umwandlung der Nationalität
in stufenweisem Fortschreiten und mit zahlreichen und mannichfaltigen
Uebergängen oft genug vorkommt. Historisch wie praktisch hat eben
überall nur der Lebende Recht; so wenig, wie die Nachkommen der
französischen Colonie in Berlin in Deutschland geborene Franzosen sind,
so wenig sind ihre jüdischen Mitbürger etwas anderes als Deutsche.
Daß die jüdische Masseneinwanderung über die Ostgrenze, welche
Hr. v. Treitschke an die Spitze seiner Judenartikel gestellt hat,
eine reine Erfindung ist, hat Hr. Neumann bekanntlich an der
Hand der Statistik in schlagender Weise dargethan, und, wenn
Hr. v. Treitschke, wie ebenfalls bekannt, "von dem, was er ge-
sagt hat, kein Wort zurücknimmt", so hat dafür Hr. Adolf Wagner,

Stämme je anfangen ſollten ſich gegen einander als Fremde zu
fühlen. Wir verhehlen uns die Verſchiedenheit nicht; aber wer
recht fühlt, der erfreut ſich derſelben, weil die vielfachen Ziele und
Verhältniſſe des Großſtaates den Menſchen in ſeiner ganzen Mannich-
faltigkeit fordern und die Fülle der in unſer großes und ſchick-
ſalvolles Volk gelegten Gaben und der ihm aufgelegten Verpflich-
tungen von keinem einzelnen Stamm ganz entwickelt und ganz
gelöſt werden kann.

Jn wie fern ſtehen nun die deutſchen Juden anders innerhalb
unſeres Volkes als die Sachſen oder die Pommern? Es iſt richtig,
daß ſie Nachkommen weder von Jſtaevo ſind noch von Hermino und
Jngaevo; und die gemeinſchaftliche Abſtammung von Vater Noah
genügt freilich nicht, wenn die germaniſche Ahnenprobe den
Deutſchen macht. Allerdings wird von der deutſchen Nation noch
allerlei mehr abfallen als die Kinder Jsraels, wenn ihr heutiger
Beſtand nach Tacitus Germania durchcorrigirt wird. Herr
Quatrefages hat vor Jahren nachgewieſen, daß nur die Mittel-
ſtaaten wirklich germaniſch ſeien und la race prussienne eine
Maſſe, zu der verkommene Slaven und allerlei anderer Abfall der
Menſchheit ſich vereinigt habe; als ſpäterhin la race germanique
und la race prussienne in den Fall kamen der großen Nation
gemeinſchaftlich den Marſch zu machen, iſt im Laufen vor beiden
kein Unterſchied wahrgenommen worden. Wer die Geſchichte wirk-
lich kennt, der weiß es, daß die Umwandlung der Nationalität
in ſtufenweiſem Fortſchreiten und mit zahlreichen und mannichfaltigen
Uebergängen oft genug vorkommt. Hiſtoriſch wie praktiſch hat eben
überall nur der Lebende Recht; ſo wenig, wie die Nachkommen der
franzöſiſchen Colonie in Berlin in Deutſchland geborene Franzoſen ſind,
ſo wenig ſind ihre jüdiſchen Mitbürger etwas anderes als Deutſche.
Daß die jüdiſche Maſſeneinwanderung über die Oſtgrenze, welche
Hr. v. Treitſchke an die Spitze ſeiner Judenartikel geſtellt hat,
eine reine Erfindung iſt, hat Hr. Neumann bekanntlich an der
Hand der Statiſtik in ſchlagender Weiſe dargethan, und, wenn
Hr. v. Treitſchke, wie ebenfalls bekannt, „von dem, was er ge-
ſagt hat, kein Wort zurücknimmt“, ſo hat dafür Hr. Adolf Wagner,

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[5/0005] Stämme je anfangen ſollten ſich gegen einander als Fremde zu fühlen. Wir verhehlen uns die Verſchiedenheit nicht; aber wer recht fühlt, der erfreut ſich derſelben, weil die vielfachen Ziele und Verhältniſſe des Großſtaates den Menſchen in ſeiner ganzen Mannich- faltigkeit fordern und die Fülle der in unſer großes und ſchick- ſalvolles Volk gelegten Gaben und der ihm aufgelegten Verpflich- tungen von keinem einzelnen Stamm ganz entwickelt und ganz gelöſt werden kann. Jn wie fern ſtehen nun die deutſchen Juden anders innerhalb unſeres Volkes als die Sachſen oder die Pommern? Es iſt richtig, daß ſie Nachkommen weder von Jſtaevo ſind noch von Hermino und Jngaevo; und die gemeinſchaftliche Abſtammung von Vater Noah genügt freilich nicht, wenn die germaniſche Ahnenprobe den Deutſchen macht. Allerdings wird von der deutſchen Nation noch allerlei mehr abfallen als die Kinder Jsraels, wenn ihr heutiger Beſtand nach Tacitus Germania durchcorrigirt wird. Herr Quatrefages hat vor Jahren nachgewieſen, daß nur die Mittel- ſtaaten wirklich germaniſch ſeien und la race prussienne eine Maſſe, zu der verkommene Slaven und allerlei anderer Abfall der Menſchheit ſich vereinigt habe; als ſpäterhin la race germanique und la race prussienne in den Fall kamen der großen Nation gemeinſchaftlich den Marſch zu machen, iſt im Laufen vor beiden kein Unterſchied wahrgenommen worden. Wer die Geſchichte wirk- lich kennt, der weiß es, daß die Umwandlung der Nationalität in ſtufenweiſem Fortſchreiten und mit zahlreichen und mannichfaltigen Uebergängen oft genug vorkommt. Hiſtoriſch wie praktiſch hat eben überall nur der Lebende Recht; ſo wenig, wie die Nachkommen der franzöſiſchen Colonie in Berlin in Deutſchland geborene Franzoſen ſind, ſo wenig ſind ihre jüdiſchen Mitbürger etwas anderes als Deutſche. Daß die jüdiſche Maſſeneinwanderung über die Oſtgrenze, welche Hr. v. Treitſchke an die Spitze ſeiner Judenartikel geſtellt hat, eine reine Erfindung iſt, hat Hr. Neumann bekanntlich an der Hand der Statiſtik in ſchlagender Weiſe dargethan, und, wenn Hr. v. Treitſchke, wie ebenfalls bekannt, „von dem, was er ge- ſagt hat, kein Wort zurücknimmt“, ſo hat dafür Hr. Adolf Wagner,

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Auch ein Wort über unser Judenthum. Berlin, 1880, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_judenthum_1880/5>, abgerufen am 23.11.2024.