Einsicht in letzterer Beziehung gehört freilich ein weiterer Ueber- blick und ein längerer geschichlicher Verlauf.
Ueber das Verhältniß der von den verschiedenen dogma- tischen Wissenschaften aufgestellten Lehren zu einander sind demnach im Einzelnen folgende Sätze gültig 1):
1. Wenn Recht, Sittenlehre und Staatskunst mit einander übereinstimmen, so muß die in Frage stehende Maßregel unter allen Umständen durchgeführt werden, da eine Bestätigung aus so verschiedenen Standpunkten unbedingt für die Richtigkeit und selbst Nothwendigkeit spricht.
2. Wenn eine von der Politik angerathene Handlungs- weise zwar vom Rechte und von der Sittlichkeit nicht verlangt, sie aber von ihnen auch nicht verworfen wird, so mag sie immerhin ausgeführt werden, falls sie bei näherer Prüfung wirklich Vortheil verspricht.
3. Collidirt dagegen ein in sachlicher Beziehung von der Klugheitslehre empfohlener Schritt mit dem Rechtsgesetze, so muß er unterbleiben; und zwar ist es gleichgültig, ob das positive oder das allgemeine Recht den Widerspruch erhebt. Im ersteren Falle ist allerdings der Beweis des Widerspruches leichter zu führen und dieser selbst für das gemeine Verständniß augenfälliger; allein da Heilighaltung des Rechtes die Grund- lage allen Zusammenlebens ist, so darf vom Staate auch nicht gegen das Wesen des Rechtes gehandelt werden. -- Ausnahmen treten nur in folgenden Fällen ein:
a. Wenn ein zu Geld anschlagbares Recht eines Einzelnen der zweckmäßigen Vollziehung einer allgemeinen Aufgabe entgegen steht, so kann dasselbe gegen volländige Ent- schädigung bei Seite gesetzt (expropriirt) werden. Hier ist einmal keine wirkliche Beeinträchtigung wegen der Ent- schädigung; zweitens kein Mißbrauch zu fürchten, eben wegen derselben; endlich steht dem, im Zweifel allerdings
Einſicht in letzterer Beziehung gehört freilich ein weiterer Ueber- blick und ein längerer geſchichlicher Verlauf.
Ueber das Verhältniß der von den verſchiedenen dogma- tiſchen Wiſſenſchaften aufgeſtellten Lehren zu einander ſind demnach im Einzelnen folgende Sätze gültig 1):
1. Wenn Recht, Sittenlehre und Staatskunſt mit einander übereinſtimmen, ſo muß die in Frage ſtehende Maßregel unter allen Umſtänden durchgeführt werden, da eine Beſtätigung aus ſo verſchiedenen Standpunkten unbedingt für die Richtigkeit und ſelbſt Nothwendigkeit ſpricht.
2. Wenn eine von der Politik angerathene Handlungs- weiſe zwar vom Rechte und von der Sittlichkeit nicht verlangt, ſie aber von ihnen auch nicht verworfen wird, ſo mag ſie immerhin ausgeführt werden, falls ſie bei näherer Prüfung wirklich Vortheil verſpricht.
3. Collidirt dagegen ein in ſachlicher Beziehung von der Klugheitslehre empfohlener Schritt mit dem Rechtsgeſetze, ſo muß er unterbleiben; und zwar iſt es gleichgültig, ob das poſitive oder das allgemeine Recht den Widerſpruch erhebt. Im erſteren Falle iſt allerdings der Beweis des Widerſpruches leichter zu führen und dieſer ſelbſt für das gemeine Verſtändniß augenfälliger; allein da Heilighaltung des Rechtes die Grund- lage allen Zuſammenlebens iſt, ſo darf vom Staate auch nicht gegen das Weſen des Rechtes gehandelt werden. — Ausnahmen treten nur in folgenden Fällen ein:
a. Wenn ein zu Geld anſchlagbares Recht eines Einzelnen der zweckmäßigen Vollziehung einer allgemeinen Aufgabe entgegen ſteht, ſo kann daſſelbe gegen volländige Ent- ſchädigung bei Seite geſetzt (expropriirt) werden. Hier iſt einmal keine wirkliche Beeinträchtigung wegen der Ent- ſchädigung; zweitens kein Mißbrauch zu fürchten, eben wegen derſelben; endlich ſteht dem, im Zweifel allerdings
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Einſicht in letzterer Beziehung gehört freilich ein weiterer Ueber-
blick und ein längerer geſchichlicher Verlauf.
Ueber das Verhältniß der von den verſchiedenen dogma-
tiſchen Wiſſenſchaften aufgeſtellten Lehren zu einander ſind
demnach im Einzelnen folgende Sätze gültig 1):
1. Wenn Recht, Sittenlehre und Staatskunſt mit einander
übereinſtimmen, ſo muß die in Frage ſtehende Maßregel unter
allen Umſtänden durchgeführt werden, da eine Beſtätigung aus
ſo verſchiedenen Standpunkten unbedingt für die Richtigkeit und
ſelbſt Nothwendigkeit ſpricht.
2. Wenn eine von der Politik angerathene Handlungs-
weiſe zwar vom Rechte und von der Sittlichkeit nicht verlangt,
ſie aber von ihnen auch nicht verworfen wird, ſo mag ſie
immerhin ausgeführt werden, falls ſie bei näherer Prüfung
wirklich Vortheil verſpricht.
3. Collidirt dagegen ein in ſachlicher Beziehung von der
Klugheitslehre empfohlener Schritt mit dem Rechtsgeſetze, ſo
muß er unterbleiben; und zwar iſt es gleichgültig, ob das
poſitive oder das allgemeine Recht den Widerſpruch erhebt. Im
erſteren Falle iſt allerdings der Beweis des Widerſpruches
leichter zu führen und dieſer ſelbſt für das gemeine Verſtändniß
augenfälliger; allein da Heilighaltung des Rechtes die Grund-
lage allen Zuſammenlebens iſt, ſo darf vom Staate auch nicht
gegen das Weſen des Rechtes gehandelt werden. — Ausnahmen
treten nur in folgenden Fällen ein:
a. Wenn ein zu Geld anſchlagbares Recht eines Einzelnen
der zweckmäßigen Vollziehung einer allgemeinen Aufgabe
entgegen ſteht, ſo kann daſſelbe gegen volländige Ent-
ſchädigung bei Seite geſetzt (expropriirt) werden. Hier iſt
einmal keine wirkliche Beeinträchtigung wegen der Ent-
ſchädigung; zweitens kein Mißbrauch zu fürchten, eben
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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 546. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/560>, abgerufen am 24.11.2024.
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