Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.solchen Anerkennung des Thatsächlichen ist immerhin das Recht 1) Die Verschiedenheit der Staaten und die daraus sich ergebende Mannch- faltigkeit des sittlichen Verhaltens ist -- so weit meine Kenntniß der betref- fendenden Literatur geht -- nirgends auch nur mit einem Worte in den Systemen der Sittenlehre berücksichtigt. In den auf philosophischer Grund- lage errichteten erklärt sich dies unschwer, indem hier das in das betreffende allgemeine System passende Ideal des Staates ausschließlich berücksichtigt wird. Weniger Grund haben die theologischen Lehrgebäude der Moral, da der christliche Charakter des Staates, welchen sie allerdings voraussetzen und verlangen, sich gar wohl mit verschiedenen Auffassungen des Zusammen- lebens verträgt. Am meisten nähert sich noch Hartenstein, Grund- begriffe der ethischen Wissenschaften, S. 530 fg., einer Anerkennung der ver- schiedenen Staatsaufgaben; doch kommt es auch hier nicht zur klaren Ein- sicht und zu einer bestimmten Forderung. 2) Diese Auffassung wird vielleicht Widerspruch erfahren, weil das Ge- wissen immer und überall dasselbe sei, somit auch immer nur dieselben Forderungen stellen könne. Dem ist allerdings so unter gleichen äußeren Bedingungen; allein eben so richtig ist, daß unter verschiedenen Voraus- setzungen und zu verschiedenen Zwecken auch verschiedenes Handeln Gewissens- pflicht wird. So ist es z. B. im modernen Rechtsstaate sittliche Pflicht, Gedanken- und Gewissensfreiheit zu fördern; sicher aber nicht in einer Theo- kratie. In einer Patriarchie ist es sittliche Forderung an den Bürger, das Oberhaupt mit kindlicher Ehrfurcht zu betrachten; dazu ist in einem Patri- monialstaate kein Grund, also auch keine Pflicht. Der klassische Staat verlangt auch von dem freien Willen seiner Theilnehmer ein so weit gehendes Aufgehen des Einzellebens in dem Wohle der Gesammtheit, wie es in keiner anderen Staatsgattung sittliche Aufgabe ist. In einer absoluten Monarchie haben nicht nur die Lehren über die sittlichen Pflichten eines Wählers und eines Abgeordneten gar keine Stelle, sondern es ist überhaupt das ganze vernünftige Verhalten zu einem Befehle des Inhabers der Staatsgewalt in einer Einherrschaft mit Volksvertretung und in einem unbeschränkten Fürsten- thume wesentlich verschieden. v. Mohl, Encyclopädie. 33
ſolchen Anerkennung des Thatſächlichen iſt immerhin das Recht 1) Die Verſchiedenheit der Staaten und die daraus ſich ergebende Mannch- faltigkeit des ſittlichen Verhaltens iſt — ſo weit meine Kenntniß der betref- fendenden Literatur geht — nirgends auch nur mit einem Worte in den Syſtemen der Sittenlehre berückſichtigt. In den auf philoſophiſcher Grund- lage errichteten erklärt ſich dies unſchwer, indem hier das in das betreffende allgemeine Syſtem paſſende Ideal des Staates ausſchließlich berückſichtigt wird. Weniger Grund haben die theologiſchen Lehrgebäude der Moral, da der chriſtliche Charakter des Staates, welchen ſie allerdings vorausſetzen und verlangen, ſich gar wohl mit verſchiedenen Auffaſſungen des Zuſammen- lebens verträgt. Am meiſten nähert ſich noch Hartenſtein, Grund- begriffe der ethiſchen Wiſſenſchaften, S. 530 fg., einer Anerkennung der ver- ſchiedenen Staatsaufgaben; doch kommt es auch hier nicht zur klaren Ein- ſicht und zu einer beſtimmten Forderung. 2) Dieſe Auffaſſung wird vielleicht Widerſpruch erfahren, weil das Ge- wiſſen immer und überall daſſelbe ſei, ſomit auch immer nur dieſelben Forderungen ſtellen könne. Dem iſt allerdings ſo unter gleichen äußeren Bedingungen; allein eben ſo richtig iſt, daß unter verſchiedenen Voraus- ſetzungen und zu verſchiedenen Zwecken auch verſchiedenes Handeln Gewiſſens- pflicht wird. So iſt es z. B. im modernen Rechtsſtaate ſittliche Pflicht, Gedanken- und Gewiſſensfreiheit zu fördern; ſicher aber nicht in einer Theo- kratie. In einer Patriarchie iſt es ſittliche Forderung an den Bürger, das Oberhaupt mit kindlicher Ehrfurcht zu betrachten; dazu iſt in einem Patri- monialſtaate kein Grund, alſo auch keine Pflicht. Der klaſſiſche Staat verlangt auch von dem freien Willen ſeiner Theilnehmer ein ſo weit gehendes Aufgehen des Einzellebens in dem Wohle der Geſammtheit, wie es in keiner anderen Staatsgattung ſittliche Aufgabe iſt. In einer abſoluten Monarchie haben nicht nur die Lehren über die ſittlichen Pflichten eines Wählers und eines Abgeordneten gar keine Stelle, ſondern es iſt überhaupt das ganze vernünftige Verhalten zu einem Befehle des Inhabers der Staatsgewalt in einer Einherrſchaft mit Volksvertretung und in einem unbeſchränkten Fürſten- thume weſentlich verſchieden. v. Mohl, Encyclopädie. 33
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ſolchen Anerkennung des Thatſächlichen iſt immerhin das Recht
und die ſittliche Pflicht einer theoretiſchen Aufklärung über
Beſſeres, ſowie die entſchiedene Abweiſung durchaus unvernünf-
tiger, alſo unbedingt unſittlicher, Handlungsweiſen im einzelnen
Falle wohl vereinbar.
¹⁾ Die Verſchiedenheit der Staaten und die daraus ſich ergebende Mannch-
faltigkeit des ſittlichen Verhaltens iſt — ſo weit meine Kenntniß der betref-
fendenden Literatur geht — nirgends auch nur mit einem Worte in den
Syſtemen der Sittenlehre berückſichtigt. In den auf philoſophiſcher Grund-
lage errichteten erklärt ſich dies unſchwer, indem hier das in das betreffende
allgemeine Syſtem paſſende Ideal des Staates ausſchließlich berückſichtigt
wird. Weniger Grund haben die theologiſchen Lehrgebäude der Moral, da
der chriſtliche Charakter des Staates, welchen ſie allerdings vorausſetzen und
verlangen, ſich gar wohl mit verſchiedenen Auffaſſungen des Zuſammen-
lebens verträgt. Am meiſten nähert ſich noch Hartenſtein, Grund-
begriffe der ethiſchen Wiſſenſchaften, S. 530 fg., einer Anerkennung der ver-
ſchiedenen Staatsaufgaben; doch kommt es auch hier nicht zur klaren Ein-
ſicht und zu einer beſtimmten Forderung.
²⁾ Dieſe Auffaſſung wird vielleicht Widerſpruch erfahren, weil das Ge-
wiſſen immer und überall daſſelbe ſei, ſomit auch immer nur dieſelben
Forderungen ſtellen könne. Dem iſt allerdings ſo unter gleichen äußeren
Bedingungen; allein eben ſo richtig iſt, daß unter verſchiedenen Voraus-
ſetzungen und zu verſchiedenen Zwecken auch verſchiedenes Handeln Gewiſſens-
pflicht wird. So iſt es z. B. im modernen Rechtsſtaate ſittliche Pflicht,
Gedanken- und Gewiſſensfreiheit zu fördern; ſicher aber nicht in einer Theo-
kratie. In einer Patriarchie iſt es ſittliche Forderung an den Bürger, das
Oberhaupt mit kindlicher Ehrfurcht zu betrachten; dazu iſt in einem Patri-
monialſtaate kein Grund, alſo auch keine Pflicht. Der klaſſiſche Staat
verlangt auch von dem freien Willen ſeiner Theilnehmer ein ſo weit gehendes
Aufgehen des Einzellebens in dem Wohle der Geſammtheit, wie es in keiner
anderen Staatsgattung ſittliche Aufgabe iſt. In einer abſoluten Monarchie
haben nicht nur die Lehren über die ſittlichen Pflichten eines Wählers und
eines Abgeordneten gar keine Stelle, ſondern es iſt überhaupt das ganze
vernünftige Verhalten zu einem Befehle des Inhabers der Staatsgewalt in
einer Einherrſchaft mit Volksvertretung und in einem unbeſchränkten Fürſten-
thume weſentlich verſchieden.
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