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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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christlichen Staaten geben, auch das canonische Recht einzelne
Vorschriften für Fürsten und ganze Völker enthalten: allein dies
gab doch nur die Grundlage für eine Staatsmoral oder für
eine kirchliche Pflicht, nicht aber für ein Völkerrecht, dem es
schon an der unerläßlichen Voraussetzung, nämlich dem that-
sächlichen Vorhandensein völlig unabhängiger und von einander
getrennter Staaten fehlte. Allerdings war im wirklichen Leben
von der festen Gliederung des heiligen römischen Reiches und
von einem bethätigten Gehorsame seiner Gliederstaaten unter
das gemeinschaftliche weltliche Haupt nicht viel zu sehen. Da
aber die ganze Wissenschaft auf der großen Fiction beruhte, so
konnten von ihr die thatsächlichen Abweichungen wohl getadelt,
nicht aber zu einem Lehrsysteme verarbeitet werden 3). Auch die
allgemeine ritterliche Kriegssitte war kein Ausgangspunkt für
das Völkerrecht, da sie nicht blos zwischen Staat und Staat
geübt wurde, sondern auch im Staate bei jeder Privatfehde,
und somit ein besonderes Verhältniß zwischen Staat und Staat
nicht hervortreten ließ, noch ordnete. Daß aber das Verhältniß
zu den nichtchristlichen, namentlich den muhamedanischen Staaten,
ebenfalls nicht auf den Begriff und die Nothwendigkeit eines
Völkerrechtes führte, lag in der Nichtanerkennung der Berechti-
gung von Heiden. Mit solchen war man wohl in unversöhn-
lichem Kriege, nicht aber auf der Grundlage gemeinschaftlicher
Erstrebung höherer Lebenszwecke 4).

So waren denn erst in der neueren Zeit die Bedingungen
einer wissenschaftlichen Bildung des Völkerrechtes gegeben. Durch
die Reformation zerfiel das einheitliche christliche Reich auch dem
Gedanken noch, und so machte sich die Nothwendigkeit eines
Rechtes unter den unabhängigen und gleichstehenden Staaten
immer fühlbarer. Zunächst freilich stand die Rechtsphilosophie
noch nicht auf der Stufe, um eine unantastbare Begründung
und eine tadellose Entwickelung zu Stande zu bringen. Die

chriſtlichen Staaten geben, auch das canoniſche Recht einzelne
Vorſchriften für Fürſten und ganze Völker enthalten: allein dies
gab doch nur die Grundlage für eine Staatsmoral oder für
eine kirchliche Pflicht, nicht aber für ein Völkerrecht, dem es
ſchon an der unerläßlichen Vorausſetzung, nämlich dem that-
ſächlichen Vorhandenſein völlig unabhängiger und von einander
getrennter Staaten fehlte. Allerdings war im wirklichen Leben
von der feſten Gliederung des heiligen römiſchen Reiches und
von einem bethätigten Gehorſame ſeiner Gliederſtaaten unter
das gemeinſchaftliche weltliche Haupt nicht viel zu ſehen. Da
aber die ganze Wiſſenſchaft auf der großen Fiction beruhte, ſo
konnten von ihr die thatſächlichen Abweichungen wohl getadelt,
nicht aber zu einem Lehrſyſteme verarbeitet werden 3). Auch die
allgemeine ritterliche Kriegsſitte war kein Ausgangspunkt für
das Völkerrecht, da ſie nicht blos zwiſchen Staat und Staat
geübt wurde, ſondern auch im Staate bei jeder Privatfehde,
und ſomit ein beſonderes Verhältniß zwiſchen Staat und Staat
nicht hervortreten ließ, noch ordnete. Daß aber das Verhältniß
zu den nichtchriſtlichen, namentlich den muhamedaniſchen Staaten,
ebenfalls nicht auf den Begriff und die Nothwendigkeit eines
Völkerrechtes führte, lag in der Nichtanerkennung der Berechti-
gung von Heiden. Mit ſolchen war man wohl in unverſöhn-
lichem Kriege, nicht aber auf der Grundlage gemeinſchaftlicher
Erſtrebung höherer Lebenszwecke 4).

So waren denn erſt in der neueren Zeit die Bedingungen
einer wiſſenſchaftlichen Bildung des Völkerrechtes gegeben. Durch
die Reformation zerfiel das einheitliche chriſtliche Reich auch dem
Gedanken noch, und ſo machte ſich die Nothwendigkeit eines
Rechtes unter den unabhängigen und gleichſtehenden Staaten
immer fühlbarer. Zunächſt freilich ſtand die Rechtsphiloſophie
noch nicht auf der Stufe, um eine unantaſtbare Begründung
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[408/0422] chriſtlichen Staaten geben, auch das canoniſche Recht einzelne Vorſchriften für Fürſten und ganze Völker enthalten: allein dies gab doch nur die Grundlage für eine Staatsmoral oder für eine kirchliche Pflicht, nicht aber für ein Völkerrecht, dem es ſchon an der unerläßlichen Vorausſetzung, nämlich dem that- ſächlichen Vorhandenſein völlig unabhängiger und von einander getrennter Staaten fehlte. Allerdings war im wirklichen Leben von der feſten Gliederung des heiligen römiſchen Reiches und von einem bethätigten Gehorſame ſeiner Gliederſtaaten unter das gemeinſchaftliche weltliche Haupt nicht viel zu ſehen. Da aber die ganze Wiſſenſchaft auf der großen Fiction beruhte, ſo konnten von ihr die thatſächlichen Abweichungen wohl getadelt, nicht aber zu einem Lehrſyſteme verarbeitet werden 3). Auch die allgemeine ritterliche Kriegsſitte war kein Ausgangspunkt für das Völkerrecht, da ſie nicht blos zwiſchen Staat und Staat geübt wurde, ſondern auch im Staate bei jeder Privatfehde, und ſomit ein beſonderes Verhältniß zwiſchen Staat und Staat nicht hervortreten ließ, noch ordnete. Daß aber das Verhältniß zu den nichtchriſtlichen, namentlich den muhamedaniſchen Staaten, ebenfalls nicht auf den Begriff und die Nothwendigkeit eines Völkerrechtes führte, lag in der Nichtanerkennung der Berechti- gung von Heiden. Mit ſolchen war man wohl in unverſöhn- lichem Kriege, nicht aber auf der Grundlage gemeinſchaftlicher Erſtrebung höherer Lebenszwecke 4). So waren denn erſt in der neueren Zeit die Bedingungen einer wiſſenſchaftlichen Bildung des Völkerrechtes gegeben. Durch die Reformation zerfiel das einheitliche chriſtliche Reich auch dem Gedanken noch, und ſo machte ſich die Nothwendigkeit eines Rechtes unter den unabhängigen und gleichſtehenden Staaten immer fühlbarer. Zunächſt freilich ſtand die Rechtsphiloſophie noch nicht auf der Stufe, um eine unantaſtbare Begründung und eine tadelloſe Entwickelung zu Stande zu bringen. Die

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/422>, abgerufen am 24.11.2024.