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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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Die staatsbürgerlichen Rechte der Einzelnen erfor-
dern in der repräsentativen Demokratie keine eigenthümlichen
Bestimmungen aus Grund des besondern Staatsgedankens; nur
versteht sich, daß sie auch in dieser Volksherrschaft möglichst
weit ausgedehnt sein müssen.

1) Ueber Volksherrschaften sehe man: Gagern, Resultate der Sitten-
geschichte. Bd. III. Die Demokratie. -- Zachariä, Vierzig Bücher vom
Staate, 2. Aufl, Bd. III, S. 192 u. ff. -- Brougham, Political phi-
losophie,
Bd. III. -- Billard, F., De l'organisation de la republique.
Ed. 2, Par.,
1848. -- Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, Bd. I,
S. 265 u. ff. -- Besonders belehrend ist hier das Studium der Gesetze
concreter Beispiele; so z. B. einer Seits der athenischen Verfassung (wie sie
z. B. von Hermann und von Böckh geschildert ist) anderer Seits
das der Vereinigten Staaten von Nordamerika (in rechtlicher Beziehung am
besten dargestellt vou Story, politisch aber von Tocqueville.)
2) Es ist eine vollkommen verkehrte Auffassung, die Volksherrschaft als
die einzig vollständig gerechtfertigte Form des Rechtsstaates zu betrachten.
Die Hauptfrage ist offenbar die Erreichung sämmtlicher Zwecke der ebenge-
nannten Staatsgattung, und die Form der Regierung ist nur ein Mittel
dazu. Falls also andere Regierungsformen ebenfalls zur Erreichung dieser
Zwecke dienen, sind sie vollständig eben so berechtigt, und wenn etwa gar
erwiesen werden könnte, daß sie besser dazu dienen, so würden sie sogar
berechtigter sein. -- Ebenso ist es ungegründet, daß die Volksherrschaft
allein des Menschen würdig sei. Des vernünftigen Menschen würdig ist es,
die besten Mittel für seine Zwecke zu wählen, und nöthigenfalls selbst auf
eine Freiheit zu verzichten, wenn dies die Bedingung eines wichtigen Vor-
theiles ist.
3) Die Begründung des Entscheidungsrechtes der Mehrheit hat namentlich
den übertriebenen Freiheitsfreunden der neuesten Zeit viele Mühe gemacht,
und es sind eben so künstliche als absurde Beweisführungen vorgenommen
worden. Diese Versuche mußten mißglücken, weil diese Herrschaft in der
That sich nicht auf ein Recht stützt, sondern vielmehr eine Rechtsverletzung
ist, sobald man nicht die praktische Nothwendigkeit als einen Rechtsgrund
annimmt. Man vergl. z. B. Fröbel, J., System der socialen Politik,
Bd. II, S. 95 u. ff.
4) Die Vereinigten Staaten bieten gegenwärtig ein merkwürdiges
Beispiel dar von der Nothwendigkeit einer richtigen Begründung des Bür-
gerrechtes in einer Volksherrschaft; und zwar dieses nach zwei Seiten zu
gleicher Zeit hin. Auf der einen Seite nämlich bringt die Verwechselung

Die ſtaatsbürgerlichen Rechte der Einzelnen erfor-
dern in der repräſentativen Demokratie keine eigenthümlichen
Beſtimmungen aus Grund des beſondern Staatsgedankens; nur
verſteht ſich, daß ſie auch in dieſer Volksherrſchaft möglichſt
weit ausgedehnt ſein müſſen.

1) Ueber Volksherrſchaften ſehe man: Gagern, Reſultate der Sitten-
geſchichte. Bd. III. Die Demokratie. — Zachariä, Vierzig Bücher vom
Staate, 2. Aufl, Bd. III, S. 192 u. ff. — Brougham, Political phi-
losophie,
Bd. III. — Billard, F., De l’organisation de la république.
Éd. 2, Par.,
1848. — Bluntſchli, Allgemeines Staatsrecht, Bd. I,
S. 265 u. ff. — Beſonders belehrend iſt hier das Studium der Geſetze
concreter Beiſpiele; ſo z. B. einer Seits der atheniſchen Verfaſſung (wie ſie
z. B. von Hermann und von Böckh geſchildert iſt) anderer Seits
das der Vereinigten Staaten von Nordamerika (in rechtlicher Beziehung am
beſten dargeſtellt vou Story, politiſch aber von Tocqueville.)
2) Es iſt eine vollkommen verkehrte Auffaſſung, die Volksherrſchaft als
die einzig vollſtändig gerechtfertigte Form des Rechtsſtaates zu betrachten.
Die Hauptfrage iſt offenbar die Erreichung ſämmtlicher Zwecke der ebenge-
nannten Staatsgattung, und die Form der Regierung iſt nur ein Mittel
dazu. Falls alſo andere Regierungsformen ebenfalls zur Erreichung dieſer
Zwecke dienen, ſind ſie vollſtändig eben ſo berechtigt, und wenn etwa gar
erwieſen werden könnte, daß ſie beſſer dazu dienen, ſo würden ſie ſogar
berechtigter ſein. — Ebenſo iſt es ungegründet, daß die Volksherrſchaft
allein des Menſchen würdig ſei. Des vernünftigen Menſchen würdig iſt es,
die beſten Mittel für ſeine Zwecke zu wählen, und nöthigenfalls ſelbſt auf
eine Freiheit zu verzichten, wenn dies die Bedingung eines wichtigen Vor-
theiles iſt.
3) Die Begründung des Entſcheidungsrechtes der Mehrheit hat namentlich
den übertriebenen Freiheitsfreunden der neueſten Zeit viele Mühe gemacht,
und es ſind eben ſo künſtliche als abſurde Beweisführungen vorgenommen
worden. Dieſe Verſuche mußten mißglücken, weil dieſe Herrſchaft in der
That ſich nicht auf ein Recht ſtützt, ſondern vielmehr eine Rechtsverletzung
iſt, ſobald man nicht die praktiſche Nothwendigkeit als einen Rechtsgrund
annimmt. Man vergl. z. B. Fröbel, J., Syſtem der ſocialen Politik,
Bd. II, S. 95 u. ff.
4) Die Vereinigten Staaten bieten gegenwärtig ein merkwürdiges
Beiſpiel dar von der Nothwendigkeit einer richtigen Begründung des Bür-
gerrechtes in einer Volksherrſchaft; und zwar dieſes nach zwei Seiten zu
gleicher Zeit hin. Auf der einen Seite nämlich bringt die Verwechſelung
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[345/0359] Die ſtaatsbürgerlichen Rechte der Einzelnen erfor- dern in der repräſentativen Demokratie keine eigenthümlichen Beſtimmungen aus Grund des beſondern Staatsgedankens; nur verſteht ſich, daß ſie auch in dieſer Volksherrſchaft möglichſt weit ausgedehnt ſein müſſen. ¹⁾ Ueber Volksherrſchaften ſehe man: Gagern, Reſultate der Sitten- geſchichte. Bd. III. Die Demokratie. — Zachariä, Vierzig Bücher vom Staate, 2. Aufl, Bd. III, S. 192 u. ff. — Brougham, Political phi- losophie, Bd. III. — Billard, F., De l’organisation de la république. Éd. 2, Par., 1848. — Bluntſchli, Allgemeines Staatsrecht, Bd. I, S. 265 u. ff. — Beſonders belehrend iſt hier das Studium der Geſetze concreter Beiſpiele; ſo z. B. einer Seits der atheniſchen Verfaſſung (wie ſie z. B. von Hermann und von Böckh geſchildert iſt) anderer Seits das der Vereinigten Staaten von Nordamerika (in rechtlicher Beziehung am beſten dargeſtellt vou Story, politiſch aber von Tocqueville.) ²⁾ Es iſt eine vollkommen verkehrte Auffaſſung, die Volksherrſchaft als die einzig vollſtändig gerechtfertigte Form des Rechtsſtaates zu betrachten. Die Hauptfrage iſt offenbar die Erreichung ſämmtlicher Zwecke der ebenge- nannten Staatsgattung, und die Form der Regierung iſt nur ein Mittel dazu. Falls alſo andere Regierungsformen ebenfalls zur Erreichung dieſer Zwecke dienen, ſind ſie vollſtändig eben ſo berechtigt, und wenn etwa gar erwieſen werden könnte, daß ſie beſſer dazu dienen, ſo würden ſie ſogar berechtigter ſein. — Ebenſo iſt es ungegründet, daß die Volksherrſchaft allein des Menſchen würdig ſei. Des vernünftigen Menſchen würdig iſt es, die beſten Mittel für ſeine Zwecke zu wählen, und nöthigenfalls ſelbſt auf eine Freiheit zu verzichten, wenn dies die Bedingung eines wichtigen Vor- theiles iſt. ³⁾ Die Begründung des Entſcheidungsrechtes der Mehrheit hat namentlich den übertriebenen Freiheitsfreunden der neueſten Zeit viele Mühe gemacht, und es ſind eben ſo künſtliche als abſurde Beweisführungen vorgenommen worden. Dieſe Verſuche mußten mißglücken, weil dieſe Herrſchaft in der That ſich nicht auf ein Recht ſtützt, ſondern vielmehr eine Rechtsverletzung iſt, ſobald man nicht die praktiſche Nothwendigkeit als einen Rechtsgrund annimmt. Man vergl. z. B. Fröbel, J., Syſtem der ſocialen Politik, Bd. II, S. 95 u. ff. ⁴⁾ Die Vereinigten Staaten bieten gegenwärtig ein merkwürdiges Beiſpiel dar von der Nothwendigkeit einer richtigen Begründung des Bür- gerrechtes in einer Volksherrſchaft; und zwar dieſes nach zwei Seiten zu gleicher Zeit hin. Auf der einen Seite nämlich bringt die Verwechſelung

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/359>, abgerufen am 23.11.2024.