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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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einstimmung zwischen beiden Gewalten erhalten beziehungsweise
wiederherstellen können, ohne daß die eine derselben ihre Selbst-
ständigkeit in dem ihr gebührenden Kreise verliere. Die Erfah-
rung zeigt, daß kirchliche Erziehung des Laienfürsten, Verwen-
dung der Priester zu den gelehrteren Staatsgeschäften und die
Furcht vor Kirchenstrafen und Bann nicht immer hinreichen,
um dem obersten Priester bestimmenden Einfluß zu verschaffen.

Große Stetigkeit und lange Dauer ist im Wesen der Theo-
kratie begründet; und sie steht auf doppelt fester Grundlage,
weil sie neben dem weltlichen auch ein geistiges Schwert führt.
Doch besteht sie nur unter der Voraussetzung eines festen und
allgemeinen Glaubens. Weder ist sie also der Staat für Völker,
welche überhaupt keine wesentlich religiöse Auffassung vom Leben
haben, noch hat sie das Recht und die Kraft zu bestehen, wenn
eine neue Entwickelung der Gesittigung den bisherigen Glauben
des Volkes lockert oder ganz ändert. Entweder verwandelt sie
sich dann, im Kampfe um ihre Erhaltung, in die härteste
Zwingherrschaft, welche Leib und Seele grausam in Fesseln
hält, oder sie geht über in eine andere Staatsgattung.

1) Das Staatsrecht der Theokratie ist von allgemeinem Standpunkte
aus weit weniger bearbeitet, als die theoretische und geschichtliche Wichtigkeit
dieser Staatsgattung erwarten läßt. Nur Haller hat in seiner Restau-
ration, Bd. IV u. V, dies ausführlich gethan, und unzweifelhaft ist dieser
Abschnitt des Werkes nicht der unbedeutendste; doch ist die Auffassung zu
enge, weil lediglich nur die christliche Theokratie des Mittelalters berücksich-
tigend, und ist es ein schiefer Gedanke, die geistlichen Staaten unter das
Patrimonialprincip zu stellen. -- Eine klassische Entwicklung des Rechtes
der Theokratie hätte Stahl in seiner Staatslehre geben können, wenn
er seine Grundanschauung von der göttlichen Institution des Staates folge-
richtig entwickelt hätte. Nun geht aber ein tiefer Riß durch das ganze
System, indem weltliches Fürstenthum auf die übersinnliche Grundlage
erbaut, beide aber nicht durch Gedanken, sondern durch Worte verbunden sind.
-- Bluntschli, im Allg. Staatsrechte, Bd. I, S. 250 fg. erörtert die
Theokratie nur aus geschichtlichem und aus politischem Gesichtspunkte, nicht
aber auch aus rechtlichem. -- Hauptsächlich muß man sich daher aus solchen

einſtimmung zwiſchen beiden Gewalten erhalten beziehungsweiſe
wiederherſtellen können, ohne daß die eine derſelben ihre Selbſt-
ſtändigkeit in dem ihr gebührenden Kreiſe verliere. Die Erfah-
rung zeigt, daß kirchliche Erziehung des Laienfürſten, Verwen-
dung der Prieſter zu den gelehrteren Staatsgeſchäften und die
Furcht vor Kirchenſtrafen und Bann nicht immer hinreichen,
um dem oberſten Prieſter beſtimmenden Einfluß zu verſchaffen.

Große Stetigkeit und lange Dauer iſt im Weſen der Theo-
kratie begründet; und ſie ſteht auf doppelt feſter Grundlage,
weil ſie neben dem weltlichen auch ein geiſtiges Schwert führt.
Doch beſteht ſie nur unter der Vorausſetzung eines feſten und
allgemeinen Glaubens. Weder iſt ſie alſo der Staat für Völker,
welche überhaupt keine weſentlich religiöſe Auffaſſung vom Leben
haben, noch hat ſie das Recht und die Kraft zu beſtehen, wenn
eine neue Entwickelung der Geſittigung den bisherigen Glauben
des Volkes lockert oder ganz ändert. Entweder verwandelt ſie
ſich dann, im Kampfe um ihre Erhaltung, in die härteſte
Zwingherrſchaft, welche Leib und Seele grauſam in Feſſeln
hält, oder ſie geht über in eine andere Staatsgattung.

1) Das Staatsrecht der Theokratie iſt von allgemeinem Standpunkte
aus weit weniger bearbeitet, als die theoretiſche und geſchichtliche Wichtigkeit
dieſer Staatsgattung erwarten läßt. Nur Haller hat in ſeiner Reſtau-
ration, Bd. IV u. V, dies ausführlich gethan, und unzweifelhaft iſt dieſer
Abſchnitt des Werkes nicht der unbedeutendſte; doch iſt die Auffaſſung zu
enge, weil lediglich nur die chriſtliche Theokratie des Mittelalters berückſich-
tigend, und iſt es ein ſchiefer Gedanke, die geiſtlichen Staaten unter das
Patrimonialprincip zu ſtellen. — Eine klaſſiſche Entwicklung des Rechtes
der Theokratie hätte Stahl in ſeiner Staatslehre geben können, wenn
er ſeine Grundanſchauung von der göttlichen Inſtitution des Staates folge-
richtig entwickelt hätte. Nun geht aber ein tiefer Riß durch das ganze
Syſtem, indem weltliches Fürſtenthum auf die überſinnliche Grundlage
erbaut, beide aber nicht durch Gedanken, ſondern durch Worte verbunden ſind.
Bluntſchli, im Allg. Staatsrechte, Bd. I, S. 250 fg. erörtert die
Theokratie nur aus geſchichtlichem und aus politiſchem Geſichtspunkte, nicht
aber auch aus rechtlichem. — Hauptſächlich muß man ſich daher aus ſolchen
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[316/0330] einſtimmung zwiſchen beiden Gewalten erhalten beziehungsweiſe wiederherſtellen können, ohne daß die eine derſelben ihre Selbſt- ſtändigkeit in dem ihr gebührenden Kreiſe verliere. Die Erfah- rung zeigt, daß kirchliche Erziehung des Laienfürſten, Verwen- dung der Prieſter zu den gelehrteren Staatsgeſchäften und die Furcht vor Kirchenſtrafen und Bann nicht immer hinreichen, um dem oberſten Prieſter beſtimmenden Einfluß zu verſchaffen. Große Stetigkeit und lange Dauer iſt im Weſen der Theo- kratie begründet; und ſie ſteht auf doppelt feſter Grundlage, weil ſie neben dem weltlichen auch ein geiſtiges Schwert führt. Doch beſteht ſie nur unter der Vorausſetzung eines feſten und allgemeinen Glaubens. Weder iſt ſie alſo der Staat für Völker, welche überhaupt keine weſentlich religiöſe Auffaſſung vom Leben haben, noch hat ſie das Recht und die Kraft zu beſtehen, wenn eine neue Entwickelung der Geſittigung den bisherigen Glauben des Volkes lockert oder ganz ändert. Entweder verwandelt ſie ſich dann, im Kampfe um ihre Erhaltung, in die härteſte Zwingherrſchaft, welche Leib und Seele grauſam in Feſſeln hält, oder ſie geht über in eine andere Staatsgattung. ¹⁾ Das Staatsrecht der Theokratie iſt von allgemeinem Standpunkte aus weit weniger bearbeitet, als die theoretiſche und geſchichtliche Wichtigkeit dieſer Staatsgattung erwarten läßt. Nur Haller hat in ſeiner Reſtau- ration, Bd. IV u. V, dies ausführlich gethan, und unzweifelhaft iſt dieſer Abſchnitt des Werkes nicht der unbedeutendſte; doch iſt die Auffaſſung zu enge, weil lediglich nur die chriſtliche Theokratie des Mittelalters berückſich- tigend, und iſt es ein ſchiefer Gedanke, die geiſtlichen Staaten unter das Patrimonialprincip zu ſtellen. — Eine klaſſiſche Entwicklung des Rechtes der Theokratie hätte Stahl in ſeiner Staatslehre geben können, wenn er ſeine Grundanſchauung von der göttlichen Inſtitution des Staates folge- richtig entwickelt hätte. Nun geht aber ein tiefer Riß durch das ganze Syſtem, indem weltliches Fürſtenthum auf die überſinnliche Grundlage erbaut, beide aber nicht durch Gedanken, ſondern durch Worte verbunden ſind. — Bluntſchli, im Allg. Staatsrechte, Bd. I, S. 250 fg. erörtert die Theokratie nur aus geſchichtlichem und aus politiſchem Geſichtspunkte, nicht aber auch aus rechtlichem. — Hauptſächlich muß man ſich daher aus ſolchen

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/330>, abgerufen am 26.11.2024.