Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite
dem englischen Staatsrechte die allegiance des Bürgers, nach russischem
das Unterthanenverhältniß rechtlich gar niemals aufhören kann, und wenn
das französische Recht bei einer Auswanderung annimmt, daß sie avec
esprit de retour
geschehe; und in dieser Beziehung nimmt sich das in
allen deutschen Verfassungen so hochgestellte Recht der Auswanderung etwas
kläglich aus: allein jene unlösbare Staatsleibeigenschaft ist rechtlich nicht zu
vertheidigen. Man mag das Gefühl beneiden, welches dem Irrthume zu
Grunde liegt; aber es sollte eben dem Gefühle des Einzelnen überlassen
bleiben, ob er in seinem mächtigen und die Volkseigenthümlichkeit befrie-
digenden Vaterlande bleiben kann und will, oder nicht.
6) In Betreff der Sklaverei geht der Rechtsanspruch gegenüber vom
Staate nicht blos dahin, daß er selbst keinen Unfreien in seinem Privat-
besitze habe oder gar die ganze Bevölkerung in ein solches Verhältniß
bringe; sondern es wird von ihm auch gefordert, daß er zwischen Unter-
thanen unter sich keinerlei Eigenthum an der Person gestatte. Zunächst ist
dieß allerdings eine privatrechtliche Frage; allein da einer Seits einem Un-
freien die vom Staate in Aussicht gestellten Vortheile nicht erreichbar sind,
andererseits der ganze Zustand von Sklaverei, Leibeigenschaft u. s. w. nur
unter dem Schutze der Staatsgesetze bestehen kann: so ist es immerhin auch
eine unmittelbar an die Staatsgewalt zu stellende Forderung, d. h. also
ein staatsbürgerliches Recht, daß er keinerlei Unfreiheit dulde. Die Gewäh-
rung dieses Rechtes ist sogar die erste Pflicht, da es Bedingung der Ver-
folgung aller weiteren Lebenszwecke ist. -- Allerdings ist in ganzen Arten
und Gattungen von Staaten, so im klassischen Staate, in den orientalischen
Gewaltherrschaften und Theokratieen, in den slavischen Rechtsstaaten der
Gegenwart, ja selbst, zu ihrer ewigen Schmach, in der repräsentativen
Demokratie der Vereinigten Staaten Leibeigenschaft und Sklaverei im groß-
artigsten Maaße vorhanden gewesen und noch vorhanden: dennoch kann die
Forderung der Beseitigung als eine fast allgemeine gestellt werden. Bei
keiner einzigen Staatsart, den classischen Staat etwa abgerechnet, bringt
schon ihr Wesen selbst die Sklaverei mit sich, sondern ist überall nur eine
zufällige Folge von Mangel an Gesittigung und von Eigennutzen.
7) Nicht erst der Bemerkung bedarf es, daß Gedanken- und Gewissens-
freiheit zwar wohl ein Kleinod für die Bürger der meisten Staatsgattungen,
dagegen grundsätzlich unverträglich mit der Theokratie ist. Ob diese nun ge-
nügenden Ersatz für die Verweigerung dieses staatsbürgerlichen Rechts gewährt
durch die Sicherstellung des Glaubens und durch eine religiöse Ordnung des
ganzen Lebens, ist eine Frage, bei deren Beantwortung die Meinungen
weit auseinander gehen.
8) Es ist schwer zu sagen, ob die Mittelchen, durch welche nicht selten
die selbstständige und überlegte Ausübung von politischen Rechten verhindert
dem engliſchen Staatsrechte die allegiance des Bürgers, nach ruſſiſchem
das Unterthanenverhältniß rechtlich gar niemals aufhören kann, und wenn
das franzöſiſche Recht bei einer Auswanderung annimmt, daß ſie avec
esprit de retour
geſchehe; und in dieſer Beziehung nimmt ſich das in
allen deutſchen Verfaſſungen ſo hochgeſtellte Recht der Auswanderung etwas
kläglich aus: allein jene unlösbare Staatsleibeigenſchaft iſt rechtlich nicht zu
vertheidigen. Man mag das Gefühl beneiden, welches dem Irrthume zu
Grunde liegt; aber es ſollte eben dem Gefühle des Einzelnen überlaſſen
bleiben, ob er in ſeinem mächtigen und die Volkseigenthümlichkeit befrie-
digenden Vaterlande bleiben kann und will, oder nicht.
6) In Betreff der Sklaverei geht der Rechtsanſpruch gegenüber vom
Staate nicht blos dahin, daß er ſelbſt keinen Unfreien in ſeinem Privat-
beſitze habe oder gar die ganze Bevölkerung in ein ſolches Verhältniß
bringe; ſondern es wird von ihm auch gefordert, daß er zwiſchen Unter-
thanen unter ſich keinerlei Eigenthum an der Perſon geſtatte. Zunächſt iſt
dieß allerdings eine privatrechtliche Frage; allein da einer Seits einem Un-
freien die vom Staate in Ausſicht geſtellten Vortheile nicht erreichbar ſind,
andererſeits der ganze Zuſtand von Sklaverei, Leibeigenſchaft u. ſ. w. nur
unter dem Schutze der Staatsgeſetze beſtehen kann: ſo iſt es immerhin auch
eine unmittelbar an die Staatsgewalt zu ſtellende Forderung, d. h. alſo
ein ſtaatsbürgerliches Recht, daß er keinerlei Unfreiheit dulde. Die Gewäh-
rung dieſes Rechtes iſt ſogar die erſte Pflicht, da es Bedingung der Ver-
folgung aller weiteren Lebenszwecke iſt. — Allerdings iſt in ganzen Arten
und Gattungen von Staaten, ſo im klaſſiſchen Staate, in den orientaliſchen
Gewaltherrſchaften und Theokratieen, in den ſlaviſchen Rechtsſtaaten der
Gegenwart, ja ſelbſt, zu ihrer ewigen Schmach, in der repräſentativen
Demokratie der Vereinigten Staaten Leibeigenſchaft und Sklaverei im groß-
artigſten Maaße vorhanden geweſen und noch vorhanden: dennoch kann die
Forderung der Beſeitigung als eine faſt allgemeine geſtellt werden. Bei
keiner einzigen Staatsart, den claſſiſchen Staat etwa abgerechnet, bringt
ſchon ihr Weſen ſelbſt die Sklaverei mit ſich, ſondern iſt überall nur eine
zufällige Folge von Mangel an Geſittigung und von Eigennutzen.
7) Nicht erſt der Bemerkung bedarf es, daß Gedanken- und Gewiſſens-
freiheit zwar wohl ein Kleinod für die Bürger der meiſten Staatsgattungen,
dagegen grundſätzlich unverträglich mit der Theokratie iſt. Ob dieſe nun ge-
nügenden Erſatz für die Verweigerung dieſes ſtaatsbürgerlichen Rechts gewährt
durch die Sicherſtellung des Glaubens und durch eine religiöſe Ordnung des
ganzen Lebens, iſt eine Frage, bei deren Beantwortung die Meinungen
weit auseinander gehen.
8) Es iſt ſchwer zu ſagen, ob die Mittelchen, durch welche nicht ſelten
die ſelbſtſtändige und überlegte Ausübung von politiſchen Rechten verhindert
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <note place="end" n="5)"><pb facs="#f0249" n="235"/>
dem engli&#x017F;chen Staatsrechte die <hi rendition="#aq">allegiance</hi> des Bürgers, nach ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chem<lb/>
das Unterthanenverhältniß rechtlich gar niemals aufhören kann, und wenn<lb/>
das franzö&#x017F;i&#x017F;che Recht bei einer Auswanderung annimmt, daß &#x017F;ie <hi rendition="#aq">avec<lb/>
esprit de retour</hi> ge&#x017F;chehe; und in die&#x017F;er Beziehung nimmt &#x017F;ich das in<lb/>
allen deut&#x017F;chen Verfa&#x017F;&#x017F;ungen &#x017F;o hochge&#x017F;tellte Recht der Auswanderung etwas<lb/>
kläglich aus: allein jene unlösbare Staatsleibeigen&#x017F;chaft i&#x017F;t rechtlich nicht zu<lb/>
vertheidigen. Man mag das Gefühl beneiden, welches dem Irrthume zu<lb/>
Grunde liegt; aber es &#x017F;ollte eben dem Gefühle des Einzelnen überla&#x017F;&#x017F;en<lb/>
bleiben, ob er in &#x017F;einem mächtigen und die Volkseigenthümlichkeit befrie-<lb/>
digenden Vaterlande bleiben kann und will, oder nicht.</note><lb/>
                    <note place="end" n="6)">In Betreff der Sklaverei geht der Rechtsan&#x017F;pruch gegenüber vom<lb/>
Staate nicht blos dahin, daß er &#x017F;elb&#x017F;t keinen Unfreien in &#x017F;einem Privat-<lb/>
be&#x017F;itze habe oder gar die ganze Bevölkerung in ein &#x017F;olches Verhältniß<lb/>
bringe; &#x017F;ondern es wird von ihm auch gefordert, daß er zwi&#x017F;chen Unter-<lb/>
thanen unter &#x017F;ich keinerlei Eigenthum an der Per&#x017F;on ge&#x017F;tatte. Zunäch&#x017F;t i&#x017F;t<lb/>
dieß allerdings eine privatrechtliche Frage; allein da einer Seits einem Un-<lb/>
freien die vom Staate in Aus&#x017F;icht ge&#x017F;tellten Vortheile nicht erreichbar &#x017F;ind,<lb/>
anderer&#x017F;eits der ganze Zu&#x017F;tand von Sklaverei, Leibeigen&#x017F;chaft u. &#x017F;. w. nur<lb/>
unter dem Schutze der Staatsge&#x017F;etze be&#x017F;tehen kann: &#x017F;o i&#x017F;t es immerhin auch<lb/>
eine unmittelbar an die Staatsgewalt zu &#x017F;tellende Forderung, d. h. al&#x017F;o<lb/>
ein &#x017F;taatsbürgerliches Recht, daß er keinerlei Unfreiheit dulde. Die Gewäh-<lb/>
rung die&#x017F;es Rechtes i&#x017F;t &#x017F;ogar die er&#x017F;te Pflicht, da es Bedingung der Ver-<lb/>
folgung aller weiteren Lebenszwecke i&#x017F;t. &#x2014; Allerdings i&#x017F;t in ganzen Arten<lb/>
und Gattungen von Staaten, &#x017F;o im kla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Staate, in den orientali&#x017F;chen<lb/>
Gewaltherr&#x017F;chaften und Theokratieen, in den &#x017F;lavi&#x017F;chen Rechts&#x017F;taaten der<lb/>
Gegenwart, ja &#x017F;elb&#x017F;t, zu ihrer ewigen Schmach, in der reprä&#x017F;entativen<lb/>
Demokratie der Vereinigten Staaten Leibeigen&#x017F;chaft und Sklaverei im groß-<lb/>
artig&#x017F;ten Maaße vorhanden gewe&#x017F;en und noch vorhanden: dennoch kann die<lb/>
Forderung der Be&#x017F;eitigung als eine fa&#x017F;t allgemeine ge&#x017F;tellt werden. Bei<lb/>
keiner einzigen Staatsart, den cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Staat etwa abgerechnet, bringt<lb/>
&#x017F;chon ihr We&#x017F;en &#x017F;elb&#x017F;t die Sklaverei mit &#x017F;ich, &#x017F;ondern i&#x017F;t überall nur eine<lb/>
zufällige Folge von Mangel an Ge&#x017F;ittigung und von Eigennutzen.</note><lb/>
                    <note place="end" n="7)">Nicht er&#x017F;t der Bemerkung bedarf es, daß Gedanken- und Gewi&#x017F;&#x017F;ens-<lb/>
freiheit zwar wohl ein Kleinod für die Bürger der mei&#x017F;ten Staatsgattungen,<lb/>
dagegen grund&#x017F;ätzlich unverträglich mit der Theokratie i&#x017F;t. Ob die&#x017F;e nun ge-<lb/>
nügenden Er&#x017F;atz für die Verweigerung die&#x017F;es &#x017F;taatsbürgerlichen Rechts gewährt<lb/>
durch die Sicher&#x017F;tellung des Glaubens und durch eine religiö&#x017F;e Ordnung des<lb/>
ganzen Lebens, i&#x017F;t eine Frage, bei deren Beantwortung die Meinungen<lb/>
weit auseinander gehen.</note><lb/>
                    <note place="end" n="8)">Es i&#x017F;t &#x017F;chwer zu &#x017F;agen, ob die Mittelchen, durch welche nicht &#x017F;elten<lb/>
die &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;tändige und überlegte Ausübung von politi&#x017F;chen Rechten verhindert<lb/></note>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[235/0249] ⁵⁾ dem engliſchen Staatsrechte die allegiance des Bürgers, nach ruſſiſchem das Unterthanenverhältniß rechtlich gar niemals aufhören kann, und wenn das franzöſiſche Recht bei einer Auswanderung annimmt, daß ſie avec esprit de retour geſchehe; und in dieſer Beziehung nimmt ſich das in allen deutſchen Verfaſſungen ſo hochgeſtellte Recht der Auswanderung etwas kläglich aus: allein jene unlösbare Staatsleibeigenſchaft iſt rechtlich nicht zu vertheidigen. Man mag das Gefühl beneiden, welches dem Irrthume zu Grunde liegt; aber es ſollte eben dem Gefühle des Einzelnen überlaſſen bleiben, ob er in ſeinem mächtigen und die Volkseigenthümlichkeit befrie- digenden Vaterlande bleiben kann und will, oder nicht. ⁶⁾ In Betreff der Sklaverei geht der Rechtsanſpruch gegenüber vom Staate nicht blos dahin, daß er ſelbſt keinen Unfreien in ſeinem Privat- beſitze habe oder gar die ganze Bevölkerung in ein ſolches Verhältniß bringe; ſondern es wird von ihm auch gefordert, daß er zwiſchen Unter- thanen unter ſich keinerlei Eigenthum an der Perſon geſtatte. Zunächſt iſt dieß allerdings eine privatrechtliche Frage; allein da einer Seits einem Un- freien die vom Staate in Ausſicht geſtellten Vortheile nicht erreichbar ſind, andererſeits der ganze Zuſtand von Sklaverei, Leibeigenſchaft u. ſ. w. nur unter dem Schutze der Staatsgeſetze beſtehen kann: ſo iſt es immerhin auch eine unmittelbar an die Staatsgewalt zu ſtellende Forderung, d. h. alſo ein ſtaatsbürgerliches Recht, daß er keinerlei Unfreiheit dulde. Die Gewäh- rung dieſes Rechtes iſt ſogar die erſte Pflicht, da es Bedingung der Ver- folgung aller weiteren Lebenszwecke iſt. — Allerdings iſt in ganzen Arten und Gattungen von Staaten, ſo im klaſſiſchen Staate, in den orientaliſchen Gewaltherrſchaften und Theokratieen, in den ſlaviſchen Rechtsſtaaten der Gegenwart, ja ſelbſt, zu ihrer ewigen Schmach, in der repräſentativen Demokratie der Vereinigten Staaten Leibeigenſchaft und Sklaverei im groß- artigſten Maaße vorhanden geweſen und noch vorhanden: dennoch kann die Forderung der Beſeitigung als eine faſt allgemeine geſtellt werden. Bei keiner einzigen Staatsart, den claſſiſchen Staat etwa abgerechnet, bringt ſchon ihr Weſen ſelbſt die Sklaverei mit ſich, ſondern iſt überall nur eine zufällige Folge von Mangel an Geſittigung und von Eigennutzen. ⁷⁾ Nicht erſt der Bemerkung bedarf es, daß Gedanken- und Gewiſſens- freiheit zwar wohl ein Kleinod für die Bürger der meiſten Staatsgattungen, dagegen grundſätzlich unverträglich mit der Theokratie iſt. Ob dieſe nun ge- nügenden Erſatz für die Verweigerung dieſes ſtaatsbürgerlichen Rechts gewährt durch die Sicherſtellung des Glaubens und durch eine religiöſe Ordnung des ganzen Lebens, iſt eine Frage, bei deren Beantwortung die Meinungen weit auseinander gehen. ⁸⁾ Es iſt ſchwer zu ſagen, ob die Mittelchen, durch welche nicht ſelten die ſelbſtſtändige und überlegte Ausübung von politiſchen Rechten verhindert

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/249
Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/249>, abgerufen am 04.05.2024.