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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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dem Staatsoberhaupte vor allen Anderen statt, weil er berufen
ist, dem ungesetzlichen Willen und den selbstischen Leidenschaften
überall entgegenzutreten, und er somit der Rache und dem Jäh-
zorne ganz besonders blosgestellt wird. Auch kommt in Betracht,
daß sich Ehrgeiz durch die Antastung seiner Rechte Bahn zu
zu brechen versuchen könnte, dadurch aber die Staatsordnung
den bedenklichsten Gefahren ausgesetzt wäre 3).

1) Ganz in derselben Weise faßt Bluntschli, Allgem. Staatsr.,
Bd. II, S. 69 fg. die Sache auf. -- Im Uebrigen ist die Entscheidung
nicht immer auf diese Seite gefallen. Wenn nämlich auch die Rechtsansicht
der Römer und ihre Neigung zu einem starken Regimente für die Unver-
antwortlichkeit war, so fand das Gegentheil statt im älteren deutschen
Staatsleben. In den germanischen Staaten war Verantwortlichkeit der
Fürsten vielfach anerkannt, selbst die des deutschen Kaisers von den
Kurfürsten beansprucht. Ob nun minderer Mannesmuth oder größere
staatliche Einsicht die Ursache sei, mag unentschieden bleiben; unzweifelhaft
ist jeden Falles, daß die allgemeine Ansicht der neueren Zeit sich für die
Unverantwortlichkeit ausspricht; und nicht einverstanden kann man sich erklären,
wenn Bluntschli, a. a. O., dieses auf die Fürstenthümer beschränken, die
republikanischen Staatsoberhäupter aber einer Verantwortlichkeit unterwerfen
will. Allerdings enthalten die neueren republikanischen Verfassungen Vor-
schriften über Anklagen gegen die gewählten Präsidenten, Gouverneure,
Bundesräthe u. s. w., und über die zu ihrer Aburtheilung bestimmten Gerichte;
allein es handelt sich hier gar nicht von Staatsoberhäuptern im rechtlichen
Sinne des Wortes, sondern vielmehr von obersten Beamten des eigentlichen
Staatsoberhauptes, nämlich des Volkes selbst, welchem in letzter Instanz
die Staatsgewalt zusteht. Die Möglichkeit und Zweckmäßigkeit einer Ver-
antwortlichkeit von Beamten kann aber keinem Zweifel unterliegen. --
Wollten aber etwa die Prozesse gegen Karl I. und gegen Ludwig XVI. als
Beweise einer Annahme und Geltendmachung von Verantwortlichkeit ange-
führt werden, so ist zu bedenken, daß diese Verfahren keine rechtsbegründeten
Handlungen, sondern revolutionäre Thatsachen waren. Eben weil die recht-
liche Ordnung der Dinge bei diesen Anklagen vollständig mißachtet und
verkehrt ward, machen dieselben so gewaltigen Eindruck und bilden sie
die Spitze der auf den Umsturz alles bestehenden Staatsrechtes gerichteten
Bestrebungen.
2) Ueber Minister-Verantwortlichkeit s. unten, § 59.
3) Durch die Behauptung einer allgemeinen rechtlichen Nothwendig-
keit strenger Bestrafung des Hochverraths und der Majestätsverbrechen

dem Staatsoberhaupte vor allen Anderen ſtatt, weil er berufen
iſt, dem ungeſetzlichen Willen und den ſelbſtiſchen Leidenſchaften
überall entgegenzutreten, und er ſomit der Rache und dem Jäh-
zorne ganz beſonders blosgeſtellt wird. Auch kommt in Betracht,
daß ſich Ehrgeiz durch die Antaſtung ſeiner Rechte Bahn zu
zu brechen verſuchen könnte, dadurch aber die Staatsordnung
den bedenklichſten Gefahren ausgeſetzt wäre 3).

1) Ganz in derſelben Weiſe faßt Bluntſchli, Allgem. Staatsr.,
Bd. II, S. 69 fg. die Sache auf. — Im Uebrigen iſt die Entſcheidung
nicht immer auf dieſe Seite gefallen. Wenn nämlich auch die Rechtsanſicht
der Römer und ihre Neigung zu einem ſtarken Regimente für die Unver-
antwortlichkeit war, ſo fand das Gegentheil ſtatt im älteren deutſchen
Staatsleben. In den germaniſchen Staaten war Verantwortlichkeit der
Fürſten vielfach anerkannt, ſelbſt die des deutſchen Kaiſers von den
Kurfürſten beanſprucht. Ob nun minderer Mannesmuth oder größere
ſtaatliche Einſicht die Urſache ſei, mag unentſchieden bleiben; unzweifelhaft
iſt jeden Falles, daß die allgemeine Anſicht der neueren Zeit ſich für die
Unverantwortlichkeit ausſpricht; und nicht einverſtanden kann man ſich erklären,
wenn Bluntſchli, a. a. O., dieſes auf die Fürſtenthümer beſchränken, die
republikaniſchen Staatsoberhäupter aber einer Verantwortlichkeit unterwerfen
will. Allerdings enthalten die neueren republikaniſchen Verfaſſungen Vor-
ſchriften über Anklagen gegen die gewählten Präſidenten, Gouverneure,
Bundesräthe u. ſ. w., und über die zu ihrer Aburtheilung beſtimmten Gerichte;
allein es handelt ſich hier gar nicht von Staatsoberhäuptern im rechtlichen
Sinne des Wortes, ſondern vielmehr von oberſten Beamten des eigentlichen
Staatsoberhauptes, nämlich des Volkes ſelbſt, welchem in letzter Inſtanz
die Staatsgewalt zuſteht. Die Möglichkeit und Zweckmäßigkeit einer Ver-
antwortlichkeit von Beamten kann aber keinem Zweifel unterliegen. —
Wollten aber etwa die Prozeſſe gegen Karl I. und gegen Ludwig XVI. als
Beweiſe einer Annahme und Geltendmachung von Verantwortlichkeit ange-
führt werden, ſo iſt zu bedenken, daß dieſe Verfahren keine rechtsbegründeten
Handlungen, ſondern revolutionäre Thatſachen waren. Eben weil die recht-
liche Ordnung der Dinge bei dieſen Anklagen vollſtändig mißachtet und
verkehrt ward, machen dieſelben ſo gewaltigen Eindruck und bilden ſie
die Spitze der auf den Umſturz alles beſtehenden Staatsrechtes gerichteten
Beſtrebungen.
2) Ueber Miniſter-Verantwortlichkeit ſ. unten, § 59.
3) Durch die Behauptung einer allgemeinen rechtlichen Nothwendig-
keit ſtrenger Beſtrafung des Hochverraths und der Majeſtätsverbrechen
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[222/0236] dem Staatsoberhaupte vor allen Anderen ſtatt, weil er berufen iſt, dem ungeſetzlichen Willen und den ſelbſtiſchen Leidenſchaften überall entgegenzutreten, und er ſomit der Rache und dem Jäh- zorne ganz beſonders blosgeſtellt wird. Auch kommt in Betracht, daß ſich Ehrgeiz durch die Antaſtung ſeiner Rechte Bahn zu zu brechen verſuchen könnte, dadurch aber die Staatsordnung den bedenklichſten Gefahren ausgeſetzt wäre 3). ¹⁾ Ganz in derſelben Weiſe faßt Bluntſchli, Allgem. Staatsr., Bd. II, S. 69 fg. die Sache auf. — Im Uebrigen iſt die Entſcheidung nicht immer auf dieſe Seite gefallen. Wenn nämlich auch die Rechtsanſicht der Römer und ihre Neigung zu einem ſtarken Regimente für die Unver- antwortlichkeit war, ſo fand das Gegentheil ſtatt im älteren deutſchen Staatsleben. In den germaniſchen Staaten war Verantwortlichkeit der Fürſten vielfach anerkannt, ſelbſt die des deutſchen Kaiſers von den Kurfürſten beanſprucht. Ob nun minderer Mannesmuth oder größere ſtaatliche Einſicht die Urſache ſei, mag unentſchieden bleiben; unzweifelhaft iſt jeden Falles, daß die allgemeine Anſicht der neueren Zeit ſich für die Unverantwortlichkeit ausſpricht; und nicht einverſtanden kann man ſich erklären, wenn Bluntſchli, a. a. O., dieſes auf die Fürſtenthümer beſchränken, die republikaniſchen Staatsoberhäupter aber einer Verantwortlichkeit unterwerfen will. Allerdings enthalten die neueren republikaniſchen Verfaſſungen Vor- ſchriften über Anklagen gegen die gewählten Präſidenten, Gouverneure, Bundesräthe u. ſ. w., und über die zu ihrer Aburtheilung beſtimmten Gerichte; allein es handelt ſich hier gar nicht von Staatsoberhäuptern im rechtlichen Sinne des Wortes, ſondern vielmehr von oberſten Beamten des eigentlichen Staatsoberhauptes, nämlich des Volkes ſelbſt, welchem in letzter Inſtanz die Staatsgewalt zuſteht. Die Möglichkeit und Zweckmäßigkeit einer Ver- antwortlichkeit von Beamten kann aber keinem Zweifel unterliegen. — Wollten aber etwa die Prozeſſe gegen Karl I. und gegen Ludwig XVI. als Beweiſe einer Annahme und Geltendmachung von Verantwortlichkeit ange- führt werden, ſo iſt zu bedenken, daß dieſe Verfahren keine rechtsbegründeten Handlungen, ſondern revolutionäre Thatſachen waren. Eben weil die recht- liche Ordnung der Dinge bei dieſen Anklagen vollſtändig mißachtet und verkehrt ward, machen dieſelben ſo gewaltigen Eindruck und bilden ſie die Spitze der auf den Umſturz alles beſtehenden Staatsrechtes gerichteten Beſtrebungen. ²⁾ Ueber Miniſter-Verantwortlichkeit ſ. unten, § 59. ³⁾ Durch die Behauptung einer allgemeinen rechtlichen Nothwendig- keit ſtrenger Beſtrafung des Hochverraths und der Majeſtätsverbrechen

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/236>, abgerufen am 27.11.2024.