theilung erforderlich. Für Geschichte und Statistik ist die Feststellung eines solchen Maßstabes geradezu unerläßlich.
Von noch vielfacherem Werthe ist das philosophische Staats- recht für das Leben. -- Völlig verkehrt wäre es freilich, einem, wenn auch noch so richtigen, rechtsphilosophischen Satze eine Zwangskraft im einzelnen Falle einzuräumen. Noch weit weniger kann davon die Rede sein, daß ein solcher Satz einem unzweifelhaft positiven Gesetze vorgezogen werde; das publicirte Gesetz bleibt verbindlich für den Bürger, so lange es nicht auf ordnungsmäßigem Wege abgeändert ist, (abgesehen jetzt von den seltenen Ausnahmsfällen, welche etwa eine gewaltsame Auflehnung gegen die positive Auctorität rechtfertigen). Es liegt dies sowohl im Begriffe des Rechts, als es von der Staatsklugheit angerathen wird. Wohl aber ist das philo- sophische Staatsrecht zu nachstehenden Zwecken im Leben ver- wendbar:
Einmal kann ein vollständiges System desselben zur Entdeckung von Lücken in einer bestehenden Gesetzgebung hinführen, auch ehe sich dieser Mangel durch Nachtheile im Leben auf empfindliche Weise bemerklich gemacht hat. Wenn diese Einsicht in die Unvollkommenheit des Bestehenden recht- zeitig benützt wird, so mag dadurch manchem Leiden oder mancher Schwäche ganz vorgebeugt werden.
Zweitens dient das philosophische Recht zur sachlichen Kritik der bestehenden positiven Gesetzgebung, und gibt somit nicht nur Veranlassung zur Vornahme von Verbesserungen, sondern selbst den Inhalt dieser letztern 2). Daß dabei auch noch manche andere Verhältnisse zu erwägen sind, so z. B. geschichtliche Begründung von Zuständen, an welche sich vielfache Interessen oder theuer gewordene Gewohnheiten knüpfen, unver- hältnißmäßiger Aufwand, auswärtige Beziehungen, Forderungen des Sittengesetzes u. s. w., versteht sich freilich von selbst. Das
theilung erforderlich. Für Geſchichte und Statiſtik iſt die Feſtſtellung eines ſolchen Maßſtabes geradezu unerläßlich.
Von noch vielfacherem Werthe iſt das philoſophiſche Staats- recht für das Leben. — Völlig verkehrt wäre es freilich, einem, wenn auch noch ſo richtigen, rechtsphiloſophiſchen Satze eine Zwangskraft im einzelnen Falle einzuräumen. Noch weit weniger kann davon die Rede ſein, daß ein ſolcher Satz einem unzweifelhaft poſitiven Geſetze vorgezogen werde; das publicirte Geſetz bleibt verbindlich für den Bürger, ſo lange es nicht auf ordnungsmäßigem Wege abgeändert iſt, (abgeſehen jetzt von den ſeltenen Ausnahmsfällen, welche etwa eine gewaltſame Auflehnung gegen die poſitive Auctorität rechtfertigen). Es liegt dies ſowohl im Begriffe des Rechts, als es von der Staatsklugheit angerathen wird. Wohl aber iſt das philo- ſophiſche Staatsrecht zu nachſtehenden Zwecken im Leben ver- wendbar:
Einmal kann ein vollſtändiges Syſtem deſſelben zur Entdeckung von Lücken in einer beſtehenden Geſetzgebung hinführen, auch ehe ſich dieſer Mangel durch Nachtheile im Leben auf empfindliche Weiſe bemerklich gemacht hat. Wenn dieſe Einſicht in die Unvollkommenheit des Beſtehenden recht- zeitig benützt wird, ſo mag dadurch manchem Leiden oder mancher Schwäche ganz vorgebeugt werden.
Zweitens dient das philoſophiſche Recht zur ſachlichen Kritik der beſtehenden poſitiven Geſetzgebung, und gibt ſomit nicht nur Veranlaſſung zur Vornahme von Verbeſſerungen, ſondern ſelbſt den Inhalt dieſer letztern 2). Daß dabei auch noch manche andere Verhältniſſe zu erwägen ſind, ſo z. B. geſchichtliche Begründung von Zuſtänden, an welche ſich vielfache Intereſſen oder theuer gewordene Gewohnheiten knüpfen, unver- hältnißmäßiger Aufwand, auswärtige Beziehungen, Forderungen des Sittengeſetzes u. ſ. w., verſteht ſich freilich von ſelbſt. Das
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0201"n="187"/>
theilung erforderlich. Für Geſchichte und Statiſtik iſt die<lb/>
Feſtſtellung eines ſolchen Maßſtabes geradezu unerläßlich.</p><lb/><p>Von noch vielfacherem Werthe iſt das philoſophiſche Staats-<lb/>
recht für das <hirendition="#g">Leben</hi>. — Völlig verkehrt wäre es freilich,<lb/>
einem, wenn auch noch ſo richtigen, rechtsphiloſophiſchen Satze<lb/>
eine Zwangskraft im einzelnen Falle einzuräumen. Noch weit<lb/>
weniger kann davon die Rede ſein, daß ein ſolcher Satz einem<lb/>
unzweifelhaft poſitiven Geſetze vorgezogen werde; das publicirte<lb/>
Geſetz bleibt verbindlich für den Bürger, ſo lange es nicht auf<lb/>
ordnungsmäßigem Wege abgeändert iſt, (abgeſehen jetzt von<lb/>
den ſeltenen Ausnahmsfällen, welche etwa eine gewaltſame<lb/>
Auflehnung gegen die poſitive Auctorität rechtfertigen). Es<lb/>
liegt dies ſowohl im Begriffe des Rechts, als es von der<lb/>
Staatsklugheit angerathen wird. Wohl aber iſt das philo-<lb/>ſophiſche Staatsrecht zu nachſtehenden Zwecken im Leben ver-<lb/>
wendbar:</p><lb/><p>Einmal kann ein vollſtändiges Syſtem deſſelben zur<lb/>
Entdeckung von <hirendition="#g">Lücken</hi> in einer beſtehenden Geſetzgebung<lb/>
hinführen, auch ehe ſich dieſer Mangel durch Nachtheile im<lb/>
Leben auf empfindliche Weiſe bemerklich gemacht hat. Wenn<lb/>
dieſe Einſicht in die Unvollkommenheit des Beſtehenden recht-<lb/>
zeitig benützt wird, ſo mag dadurch manchem Leiden oder<lb/>
mancher Schwäche ganz vorgebeugt werden.</p><lb/><p>Zweitens dient das philoſophiſche Recht zur <hirendition="#g">ſachlichen<lb/>
Kritik</hi> der beſtehenden poſitiven Geſetzgebung, und gibt ſomit<lb/>
nicht nur Veranlaſſung zur Vornahme von Verbeſſerungen,<lb/>ſondern ſelbſt den Inhalt dieſer letztern <hirendition="#sup">2</hi>). Daß dabei auch<lb/>
noch manche andere Verhältniſſe zu erwägen ſind, ſo z. B.<lb/>
geſchichtliche Begründung von Zuſtänden, an welche ſich vielfache<lb/>
Intereſſen oder theuer gewordene Gewohnheiten knüpfen, unver-<lb/>
hältnißmäßiger Aufwand, auswärtige Beziehungen, Forderungen<lb/>
des Sittengeſetzes u. ſ. w., verſteht ſich freilich von ſelbſt. Das<lb/></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[187/0201]
theilung erforderlich. Für Geſchichte und Statiſtik iſt die
Feſtſtellung eines ſolchen Maßſtabes geradezu unerläßlich.
Von noch vielfacherem Werthe iſt das philoſophiſche Staats-
recht für das Leben. — Völlig verkehrt wäre es freilich,
einem, wenn auch noch ſo richtigen, rechtsphiloſophiſchen Satze
eine Zwangskraft im einzelnen Falle einzuräumen. Noch weit
weniger kann davon die Rede ſein, daß ein ſolcher Satz einem
unzweifelhaft poſitiven Geſetze vorgezogen werde; das publicirte
Geſetz bleibt verbindlich für den Bürger, ſo lange es nicht auf
ordnungsmäßigem Wege abgeändert iſt, (abgeſehen jetzt von
den ſeltenen Ausnahmsfällen, welche etwa eine gewaltſame
Auflehnung gegen die poſitive Auctorität rechtfertigen). Es
liegt dies ſowohl im Begriffe des Rechts, als es von der
Staatsklugheit angerathen wird. Wohl aber iſt das philo-
ſophiſche Staatsrecht zu nachſtehenden Zwecken im Leben ver-
wendbar:
Einmal kann ein vollſtändiges Syſtem deſſelben zur
Entdeckung von Lücken in einer beſtehenden Geſetzgebung
hinführen, auch ehe ſich dieſer Mangel durch Nachtheile im
Leben auf empfindliche Weiſe bemerklich gemacht hat. Wenn
dieſe Einſicht in die Unvollkommenheit des Beſtehenden recht-
zeitig benützt wird, ſo mag dadurch manchem Leiden oder
mancher Schwäche ganz vorgebeugt werden.
Zweitens dient das philoſophiſche Recht zur ſachlichen
Kritik der beſtehenden poſitiven Geſetzgebung, und gibt ſomit
nicht nur Veranlaſſung zur Vornahme von Verbeſſerungen,
ſondern ſelbſt den Inhalt dieſer letztern 2). Daß dabei auch
noch manche andere Verhältniſſe zu erwägen ſind, ſo z. B.
geſchichtliche Begründung von Zuſtänden, an welche ſich vielfache
Intereſſen oder theuer gewordene Gewohnheiten knüpfen, unver-
hältnißmäßiger Aufwand, auswärtige Beziehungen, Forderungen
des Sittengeſetzes u. ſ. w., verſteht ſich freilich von ſelbſt. Das
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/201>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.