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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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der neuen Lebensauffassung und ihren Folgen zu widerstehen:
so verdient eine solche Haltung doch sittlich und vom Stand-
punkte der Zweckmäßigkeit aus den härtesten Tadel. Ebenso
bedarf es nicht erst der Bemerkung, daß die Art des abzuän-
dernden Staates keinerlei Unterschied in dem Rechte ihn zu
verändern macht. Eine Theokratie z. B., welche den Glauben
des Volkes verloren hat, ist so wenig berechtigt weiter zu bestehen,
als ein patriarchalischer Staat, dessen geringe Leistungen erwei-
terten Lebensanforderungen nicht mehr entsprechen.

Dies die Antwort vom rechtlichen Standpunkte aus; allein
nicht aus den Augen dürfen die großen Schwierigkeiten gelassen
werden, welche sich bei der Durchführung solcher außergesetz-
licher Schritte ergeben. Schon der Umstand, daß zu gewalt-
samen Maßregeln gegriffen werden muß, beweist, daß ernstlicher
Widerstand, sei es von bisherigen Gewalthabern sei es von
einer Minderzahl, in Aussicht steht. Vielleicht, und selbst
wahrscheinlich, mischen sich auch fremde Staaten aus Besorgniß
der Ansteckung oder aus Lust in der Verwirrung zu gewinnen,
in den Streit. Leicht also möglich, daß viele Jahre erbitterten
und verheerenden Kampfes die Folge einer solchen Bewegung
sind. Der Nationalwohlstand und die Gesittigung können in
einem Meere von Blut untergehen; Verfolgungen, Hinrichtungen
und Vertreibungen Einzelner und ganzer Parteien Glück und
Leben von Tausenden vernichten. Dabei ist ein guter Erfolg
nichts weniger als sicher, wäre es auch nur deßhalb, weil der
Erschöpfung und Verzweiflung oft auch eine verhaßte und dem
ursprünglichen Bemühen noch so entfernte Herrschaft als einen
Rettungsanker erscheint. Vielleicht ist sogar der aus den
Fugen gebrachte Staat nicht wieder in irgend eine bleibende
Ordnung zu bringen. Die verschiedenen Bestandtheile des
Volkes treten feindselig auseinander und bekämpfen sich, da keiner
übermächtig ist, mit abwechselndem Glücke, und führen durch

der neuen Lebensauffaſſung und ihren Folgen zu widerſtehen:
ſo verdient eine ſolche Haltung doch ſittlich und vom Stand-
punkte der Zweckmäßigkeit aus den härteſten Tadel. Ebenſo
bedarf es nicht erſt der Bemerkung, daß die Art des abzuän-
dernden Staates keinerlei Unterſchied in dem Rechte ihn zu
verändern macht. Eine Theokratie z. B., welche den Glauben
des Volkes verloren hat, iſt ſo wenig berechtigt weiter zu beſtehen,
als ein patriarchaliſcher Staat, deſſen geringe Leiſtungen erwei-
terten Lebensanforderungen nicht mehr entſprechen.

Dies die Antwort vom rechtlichen Standpunkte aus; allein
nicht aus den Augen dürfen die großen Schwierigkeiten gelaſſen
werden, welche ſich bei der Durchführung ſolcher außergeſetz-
licher Schritte ergeben. Schon der Umſtand, daß zu gewalt-
ſamen Maßregeln gegriffen werden muß, beweiſt, daß ernſtlicher
Widerſtand, ſei es von bisherigen Gewalthabern ſei es von
einer Minderzahl, in Ausſicht ſteht. Vielleicht, und ſelbſt
wahrſcheinlich, miſchen ſich auch fremde Staaten aus Beſorgniß
der Anſteckung oder aus Luſt in der Verwirrung zu gewinnen,
in den Streit. Leicht alſo möglich, daß viele Jahre erbitterten
und verheerenden Kampfes die Folge einer ſolchen Bewegung
ſind. Der Nationalwohlſtand und die Geſittigung können in
einem Meere von Blut untergehen; Verfolgungen, Hinrichtungen
und Vertreibungen Einzelner und ganzer Parteien Glück und
Leben von Tauſenden vernichten. Dabei iſt ein guter Erfolg
nichts weniger als ſicher, wäre es auch nur deßhalb, weil der
Erſchöpfung und Verzweiflung oft auch eine verhaßte und dem
urſprünglichen Bemühen noch ſo entfernte Herrſchaft als einen
Rettungsanker erſcheint. Vielleicht iſt ſogar der aus den
Fugen gebrachte Staat nicht wieder in irgend eine bleibende
Ordnung zu bringen. Die verſchiedenen Beſtandtheile des
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übermächtig iſt, mit abwechſelndem Glücke, und führen durch

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[165/0179] der neuen Lebensauffaſſung und ihren Folgen zu widerſtehen: ſo verdient eine ſolche Haltung doch ſittlich und vom Stand- punkte der Zweckmäßigkeit aus den härteſten Tadel. Ebenſo bedarf es nicht erſt der Bemerkung, daß die Art des abzuän- dernden Staates keinerlei Unterſchied in dem Rechte ihn zu verändern macht. Eine Theokratie z. B., welche den Glauben des Volkes verloren hat, iſt ſo wenig berechtigt weiter zu beſtehen, als ein patriarchaliſcher Staat, deſſen geringe Leiſtungen erwei- terten Lebensanforderungen nicht mehr entſprechen. Dies die Antwort vom rechtlichen Standpunkte aus; allein nicht aus den Augen dürfen die großen Schwierigkeiten gelaſſen werden, welche ſich bei der Durchführung ſolcher außergeſetz- licher Schritte ergeben. Schon der Umſtand, daß zu gewalt- ſamen Maßregeln gegriffen werden muß, beweiſt, daß ernſtlicher Widerſtand, ſei es von bisherigen Gewalthabern ſei es von einer Minderzahl, in Ausſicht ſteht. Vielleicht, und ſelbſt wahrſcheinlich, miſchen ſich auch fremde Staaten aus Beſorgniß der Anſteckung oder aus Luſt in der Verwirrung zu gewinnen, in den Streit. Leicht alſo möglich, daß viele Jahre erbitterten und verheerenden Kampfes die Folge einer ſolchen Bewegung ſind. Der Nationalwohlſtand und die Geſittigung können in einem Meere von Blut untergehen; Verfolgungen, Hinrichtungen und Vertreibungen Einzelner und ganzer Parteien Glück und Leben von Tauſenden vernichten. Dabei iſt ein guter Erfolg nichts weniger als ſicher, wäre es auch nur deßhalb, weil der Erſchöpfung und Verzweiflung oft auch eine verhaßte und dem urſprünglichen Bemühen noch ſo entfernte Herrſchaft als einen Rettungsanker erſcheint. Vielleicht iſt ſogar der aus den Fugen gebrachte Staat nicht wieder in irgend eine bleibende Ordnung zu bringen. Die verſchiedenen Beſtandtheile des Volkes treten feindſelig auseinander und bekämpfen ſich, da keiner übermächtig iſt, mit abwechſelndem Glücke, und führen durch

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/179>, abgerufen am 28.04.2024.