Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.der türkischen Barbarei eine auch nur theilweise Verfolgung vernünftiger Lebenszwecke unmöglich war. Die innere Berechtigung herangereifter Colo- nieen zu eigener Staatsgründung ist zum Axiom geworden, weil nur ein eigener Staat den aus höherer Gesittigung entsprossenen Lebenszwecken ge- nügt. Wer würde das Recht der Handlungsweise und das rechtliche Be- stehen des daraus hervorgehenden Erzeugnisses bezweifeln, wenn es einem Einzelnen oder einer Anzahl gelänge, in einem größeren oder kleineren Theile des mittel- oder südamerikanischen Festlandes einen Staat an die Stelle der dort herschenden Anarchie zu setzen? -- Daß eine ähnliche Vertheidigung gewaltsamer Umänderungen in bereits bestehenden Staaten statt findet, (s. unten, § 22,) benimmt der Beweiskraft für die Erlaubtheit einer Neugründung nichts. Derselbe Rechtsgrund kann in thatsächlich verschiedenen Verhältnissen zu verschiedenen Handlungsweisen befugen. 7) Von selbst versteht sich, daß unter Neugründung nicht auch schon blose Aenderungen und Verbesserungen eines im Wesentlichen bleibenden Staatswesens begriffen sind. Ihre Berechtigung beruht auf anderen Voraus- setzungen. Allein eben so klar ist auch, daß nicht blos von Reform die Rede sein kann, wenn eine in dem ganzen Wesen und in der Hauptaufgabe, vielleicht selbst in den äußeren Bestandtheilen verschiedene Gestaltung eines allerdings längst bestehenden Staatszustandes eingetreten ist. Alexander's asiatisches Reich war eine ganz selbstständige Schöpfung; das spanische Mexiko keine Fortsetzung des Staates der Aczteken; Wilhelm der Eroberer gründete einen ganz neuen Staat in England; die Niederlande von 1815, Belgien im Jahre 1830 waren neu gegründete Staaten. In allen solchen Fällen steht die Frage über die Berechtigung zur Gründung eines Staates offen. § 14. 4. Die Verschiedenheit der Staaten. Da die durch den Staat zu fördernden Volkszwecke nach v. Mohl, Encyclopädie. 7
der türkiſchen Barbarei eine auch nur theilweiſe Verfolgung vernünftiger Lebenszwecke unmöglich war. Die innere Berechtigung herangereifter Colo- nieen zu eigener Staatsgründung iſt zum Axiom geworden, weil nur ein eigener Staat den aus höherer Geſittigung entſproſſenen Lebenszwecken ge- nügt. Wer würde das Recht der Handlungsweiſe und das rechtliche Be- ſtehen des daraus hervorgehenden Erzeugniſſes bezweifeln, wenn es einem Einzelnen oder einer Anzahl gelänge, in einem größeren oder kleineren Theile des mittel- oder ſüdamerikaniſchen Feſtlandes einen Staat an die Stelle der dort herſchenden Anarchie zu ſetzen? — Daß eine ähnliche Vertheidigung gewaltſamer Umänderungen in bereits beſtehenden Staaten ſtatt findet, (ſ. unten, § 22,) benimmt der Beweiskraft für die Erlaubtheit einer Neugründung nichts. Derſelbe Rechtsgrund kann in thatſächlich verſchiedenen Verhältniſſen zu verſchiedenen Handlungsweiſen befugen. 7) Von ſelbſt verſteht ſich, daß unter Neugründung nicht auch ſchon bloſe Aenderungen und Verbeſſerungen eines im Weſentlichen bleibenden Staatsweſens begriffen ſind. Ihre Berechtigung beruht auf anderen Voraus- ſetzungen. Allein eben ſo klar iſt auch, daß nicht blos von Reform die Rede ſein kann, wenn eine in dem ganzen Weſen und in der Hauptaufgabe, vielleicht ſelbſt in den äußeren Beſtandtheilen verſchiedene Geſtaltung eines allerdings längſt beſtehenden Staatszuſtandes eingetreten iſt. Alexander’s aſiatiſches Reich war eine ganz ſelbſtſtändige Schöpfung; das ſpaniſche Mexiko keine Fortſetzung des Staates der Aczteken; Wilhelm der Eroberer gründete einen ganz neuen Staat in England; die Niederlande von 1815, Belgien im Jahre 1830 waren neu gegründete Staaten. In allen ſolchen Fällen ſteht die Frage über die Berechtigung zur Gründung eines Staates offen. § 14. 4. Die Verſchiedenheit der Staaten. Da die durch den Staat zu fördernden Volkszwecke nach v. Mohl, Encyclopädie. 7
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <note place="end" n="6)"><pb facs="#f0111" n="97"/> der türkiſchen Barbarei eine auch nur theilweiſe Verfolgung vernünftiger<lb/> Lebenszwecke unmöglich war. Die innere Berechtigung herangereifter Colo-<lb/> nieen zu eigener Staatsgründung iſt zum Axiom geworden, weil nur ein<lb/> eigener Staat den aus höherer Geſittigung entſproſſenen Lebenszwecken ge-<lb/> nügt. Wer würde das Recht der Handlungsweiſe und das rechtliche Be-<lb/> ſtehen des daraus hervorgehenden Erzeugniſſes bezweifeln, wenn es einem<lb/> Einzelnen oder einer Anzahl gelänge, in einem größeren oder kleineren<lb/> Theile des mittel- oder ſüdamerikaniſchen Feſtlandes einen Staat an die<lb/> Stelle der dort herſchenden Anarchie zu ſetzen? — Daß eine ähnliche<lb/> Vertheidigung gewaltſamer Umänderungen in bereits beſtehenden Staaten ſtatt<lb/> findet, (ſ. unten, § 22,) benimmt der Beweiskraft für die Erlaubtheit einer<lb/> Neugründung nichts. Derſelbe Rechtsgrund kann in thatſächlich verſchiedenen<lb/> Verhältniſſen zu verſchiedenen Handlungsweiſen befugen.</note><lb/> <note place="end" n="7)">Von ſelbſt verſteht ſich, daß unter Neugründung nicht auch ſchon<lb/> bloſe Aenderungen und Verbeſſerungen eines im Weſentlichen bleibenden<lb/> Staatsweſens begriffen ſind. Ihre Berechtigung beruht auf anderen Voraus-<lb/> ſetzungen. Allein eben ſo klar iſt auch, daß nicht blos von Reform die Rede<lb/> ſein kann, wenn eine in dem ganzen Weſen und in der Hauptaufgabe,<lb/> vielleicht ſelbſt in den äußeren Beſtandtheilen verſchiedene Geſtaltung eines<lb/> allerdings längſt beſtehenden Staatszuſtandes eingetreten iſt. Alexander’s<lb/> aſiatiſches Reich war eine ganz ſelbſtſtändige Schöpfung; das ſpaniſche<lb/> Mexiko keine Fortſetzung des Staates der Aczteken; Wilhelm der Eroberer<lb/> gründete einen ganz neuen Staat in England; die Niederlande von 1815,<lb/> Belgien im Jahre 1830 waren neu gegründete Staaten. In allen ſolchen<lb/> Fällen ſteht die Frage über die Berechtigung zur <hi rendition="#g">Gründung</hi> eines Staates<lb/> offen.</note> </div><lb/> <div n="3"> <head>§ 14.<lb/><hi rendition="#b">4. Die Verſchiedenheit der Staaten.</hi></head><lb/> <p>Da die durch den Staat zu fördernden Volkszwecke nach<lb/> Art und Ausdehnung ſehr verſchieden ſein können, und da<lb/> die Begründung der Staaten ebenfalls auf mannchfache Weiſe<lb/> möglich iſt: ſo iſt eine Verſchiedenheit derſelben nach Inhalt<lb/> und Form vorweg zu vermuthen. Und dieſe Vermuthung wird<lb/> durch die Erfahrung reichlich beſtätigt. Sowohl die Geſchichte<lb/> als die Umſchau in der Gegenwart zeigt große Abweichungen<lb/> nicht nur in einzelnen Theilen des Organismus, ſondern auch<lb/> in der ganzen Richtung.</p><lb/> <fw place="bottom" type="sig">v. <hi rendition="#g">Mohl</hi>, Encyclopädie. 7</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [97/0111]
⁶⁾ der türkiſchen Barbarei eine auch nur theilweiſe Verfolgung vernünftiger
Lebenszwecke unmöglich war. Die innere Berechtigung herangereifter Colo-
nieen zu eigener Staatsgründung iſt zum Axiom geworden, weil nur ein
eigener Staat den aus höherer Geſittigung entſproſſenen Lebenszwecken ge-
nügt. Wer würde das Recht der Handlungsweiſe und das rechtliche Be-
ſtehen des daraus hervorgehenden Erzeugniſſes bezweifeln, wenn es einem
Einzelnen oder einer Anzahl gelänge, in einem größeren oder kleineren
Theile des mittel- oder ſüdamerikaniſchen Feſtlandes einen Staat an die
Stelle der dort herſchenden Anarchie zu ſetzen? — Daß eine ähnliche
Vertheidigung gewaltſamer Umänderungen in bereits beſtehenden Staaten ſtatt
findet, (ſ. unten, § 22,) benimmt der Beweiskraft für die Erlaubtheit einer
Neugründung nichts. Derſelbe Rechtsgrund kann in thatſächlich verſchiedenen
Verhältniſſen zu verſchiedenen Handlungsweiſen befugen.
⁷⁾ Von ſelbſt verſteht ſich, daß unter Neugründung nicht auch ſchon
bloſe Aenderungen und Verbeſſerungen eines im Weſentlichen bleibenden
Staatsweſens begriffen ſind. Ihre Berechtigung beruht auf anderen Voraus-
ſetzungen. Allein eben ſo klar iſt auch, daß nicht blos von Reform die Rede
ſein kann, wenn eine in dem ganzen Weſen und in der Hauptaufgabe,
vielleicht ſelbſt in den äußeren Beſtandtheilen verſchiedene Geſtaltung eines
allerdings längſt beſtehenden Staatszuſtandes eingetreten iſt. Alexander’s
aſiatiſches Reich war eine ganz ſelbſtſtändige Schöpfung; das ſpaniſche
Mexiko keine Fortſetzung des Staates der Aczteken; Wilhelm der Eroberer
gründete einen ganz neuen Staat in England; die Niederlande von 1815,
Belgien im Jahre 1830 waren neu gegründete Staaten. In allen ſolchen
Fällen ſteht die Frage über die Berechtigung zur Gründung eines Staates
offen.
§ 14.
4. Die Verſchiedenheit der Staaten.
Da die durch den Staat zu fördernden Volkszwecke nach
Art und Ausdehnung ſehr verſchieden ſein können, und da
die Begründung der Staaten ebenfalls auf mannchfache Weiſe
möglich iſt: ſo iſt eine Verſchiedenheit derſelben nach Inhalt
und Form vorweg zu vermuthen. Und dieſe Vermuthung wird
durch die Erfahrung reichlich beſtätigt. Sowohl die Geſchichte
als die Umſchau in der Gegenwart zeigt große Abweichungen
nicht nur in einzelnen Theilen des Organismus, ſondern auch
in der ganzen Richtung.
v. Mohl, Encyclopädie. 7
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |