XII. Schreiben einer alten Ehefrau an eine junge Empfindsame.
Sie thun Jhrem Manne Unrecht, liebes Kind, wenn Sie von ihm glauben, daß er sie jetzt weniger liebe als vorher. Er ist ein feuriger thätiger Mann, der Arbeit und Mühe liebt, und darinn sein Vergnügen fin- det; und so lange wie seine Liebe gegen Sie ihm Arbeit und Mühe machte, war er ganz damit beschäftiget. Wie aber dieses natürlicher Weise aufgehöret hat: so hat sich ihr beyderseitiger Zustand, aber keinesweges seine Liebe, wie Sie es nehmen, verändert.
Eine Liebe die erobern will und eine die erobert hat, sind zwey ganz unterschiedene Leidenschaften. Jene spannt alle Kräfte des Helden; sie läßt ihn fürchten, hoffen und wünschen; sie führt ihn endlich von Triumph zu Triumph, und jeder Fuß breit den Sie ihm gewinnen läßt, wird ein Königreich. Damit unterhält und ernährt sie die ganze Thätigkeit des Mannes, der sich ihr überläßt; aber das kann diese nicht. Der glücklich gewordene Ehemann kann sich nicht wie der Liebhaber zeigen; er hat nicht wie dieser zu fürchten, zu hoffen und zu wünschen; er hat nicht mehr die süße Mühe mit seinen Triumphen, die er vorhin hatte, und was er einmal gewonnen hat, wird für ihn keine neue Eroberung.
Diesen ganz natürlichen Unterschied, liebes Kind! müssen Sie sich nur merken: so wird Jhnen die ganze Aufführung ihres Mannes, der jetzt mehr Vergnügen in Geschäften als an ihrer grünen Seite findet, gar nicht widrig vorkommen. Nicht wahr, Sie wünschten noch
wohl,
Schreiben einer alten Ehefrau
XII. Schreiben einer alten Ehefrau an eine junge Empfindſame.
Sie thun Jhrem Manne Unrecht, liebes Kind, wenn Sie von ihm glauben, daß er ſie jetzt weniger liebe als vorher. Er iſt ein feuriger thaͤtiger Mann, der Arbeit und Muͤhe liebt, und darinn ſein Vergnuͤgen fin- det; und ſo lange wie ſeine Liebe gegen Sie ihm Arbeit und Muͤhe machte, war er ganz damit beſchaͤftiget. Wie aber dieſes natuͤrlicher Weiſe aufgehoͤret hat: ſo hat ſich ihr beyderſeitiger Zuſtand, aber keinesweges ſeine Liebe, wie Sie es nehmen, veraͤndert.
Eine Liebe die erobern will und eine die erobert hat, ſind zwey ganz unterſchiedene Leidenſchaften. Jene ſpannt alle Kraͤfte des Helden; ſie laͤßt ihn fuͤrchten, hoffen und wuͤnſchen; ſie fuͤhrt ihn endlich von Triumph zu Triumph, und jeder Fuß breit den Sie ihm gewinnen laͤßt, wird ein Koͤnigreich. Damit unterhaͤlt und ernaͤhrt ſie die ganze Thaͤtigkeit des Mannes, der ſich ihr uͤberlaͤßt; aber das kann dieſe nicht. Der gluͤcklich gewordene Ehemann kann ſich nicht wie der Liebhaber zeigen; er hat nicht wie dieſer zu fuͤrchten, zu hoffen und zu wuͤnſchen; er hat nicht mehr die ſuͤße Muͤhe mit ſeinen Triumphen, die er vorhin hatte, und was er einmal gewonnen hat, wird fuͤr ihn keine neue Eroberung.
Dieſen ganz natuͤrlichen Unterſchied, liebes Kind! muͤſſen Sie ſich nur merken: ſo wird Jhnen die ganze Auffuͤhrung ihres Mannes, der jetzt mehr Vergnuͤgen in Geſchaͤften als an ihrer gruͤnen Seite findet, gar nicht widrig vorkommen. Nicht wahr, Sie wuͤnſchten noch
wohl,
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Schreiben einer alten Ehefrau
XII.
Schreiben einer alten Ehefrau an eine
junge Empfindſame.
Sie thun Jhrem Manne Unrecht, liebes Kind, wenn
Sie von ihm glauben, daß er ſie jetzt weniger
liebe als vorher. Er iſt ein feuriger thaͤtiger Mann, der
Arbeit und Muͤhe liebt, und darinn ſein Vergnuͤgen fin-
det; und ſo lange wie ſeine Liebe gegen Sie ihm Arbeit
und Muͤhe machte, war er ganz damit beſchaͤftiget. Wie
aber dieſes natuͤrlicher Weiſe aufgehoͤret hat: ſo hat ſich
ihr beyderſeitiger Zuſtand, aber keinesweges ſeine Liebe,
wie Sie es nehmen, veraͤndert.
Eine Liebe die erobern will und eine die erobert hat,
ſind zwey ganz unterſchiedene Leidenſchaften. Jene ſpannt
alle Kraͤfte des Helden; ſie laͤßt ihn fuͤrchten, hoffen und
wuͤnſchen; ſie fuͤhrt ihn endlich von Triumph zu Triumph,
und jeder Fuß breit den Sie ihm gewinnen laͤßt, wird ein
Koͤnigreich. Damit unterhaͤlt und ernaͤhrt ſie die ganze
Thaͤtigkeit des Mannes, der ſich ihr uͤberlaͤßt; aber das
kann dieſe nicht. Der gluͤcklich gewordene Ehemann kann
ſich nicht wie der Liebhaber zeigen; er hat nicht wie dieſer
zu fuͤrchten, zu hoffen und zu wuͤnſchen; er hat nicht mehr
die ſuͤße Muͤhe mit ſeinen Triumphen, die er vorhin hatte,
und was er einmal gewonnen hat, wird fuͤr ihn keine
neue Eroberung.
Dieſen ganz natuͤrlichen Unterſchied, liebes Kind!
muͤſſen Sie ſich nur merken: ſo wird Jhnen die ganze
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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 4. Berlin, 1786, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien04_1786/62>, abgerufen am 23.11.2024.
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