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Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778.

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Also soll man mit Verstattung
sollte er die Gründe gegen den Selbstmord nicht verstärken?
sollte er die Freunde und Angehörige des Tiefsinnigen nicht
in der größten Wachsamkeit halten? ich denke ja; und es
sey nun wenig oder viel: so ist es doch immer besser als
nichts, besser als gar eine Ehre nach dem Tode. Damit
würde denn aber auch jene christliche Gewohnheit von der
andern Seite noch immer gerechtfertiget; nemlich gegen den
Einwurf, daß man vernunftlosen Menschen ihre Thaten
nicht zurechnen könne. Wo die Vernunftlosigkeit klar ist,
und jemand sich in der Raserey eines hitzigen Fiebers, oder
in einer offenbaren Verrückung den Hals abstürzt, wird
die Ermäßigung sich ohnehin von selbst finden.

Dem Urtheil Gottes wird aber dadurch gar nicht vor-
gegriffen, daß man demjenigen, der sich selbst entleibt, den
Kirchhof verschließt; und den Lebenden zu ihrem eignen Be-
sten die unfehlbare Verdammniß auf einen vorsetzlichen
Selbstmord verkündigt. Man würde vielmehr dem Men-
schen einen schlechten Dienst erweisen, wenn man ihm diesen
letzten Ankergrund zur Zeit des Sturms entziehen wollte.

Aber die Hauptursache, warum man hierin zu unsern
Zeiten milder ist, als man ehedem war, liegt wohl in un-
ser immer speculirenden und raisonnirenden Philosophie.
Diese entweihet fast alles; die Kirche oder das Haus wor-
in die Gemeine sich zum öffentlichen Gottesdienst versamm-
let, ist ihr nicht heiliger als der Berg worauf der Nomade
anbetet; die Kirchhöfe sind ihr gemeine Aecker worauf man
die Todten verscharret; sie findet es ungroßmüthig, diese
letzte Ruhestätte einem armen hingefallenen Pilgrim zu ver-
sagen, und lehret, daß was Gott im Himmel aufnehme,
wir arme kurzsichtige Geschöpfe in der Gruft nicht trennen
sollten.

Ist dieses nicht aber wiederum die Sprache der Men-
schenliebe, welche alle Hurkinder zunftfähig macht, und

den

Alſo ſoll man mit Verſtattung
ſollte er die Gruͤnde gegen den Selbſtmord nicht verſtaͤrken?
ſollte er die Freunde und Angehoͤrige des Tiefſinnigen nicht
in der groͤßten Wachſamkeit halten? ich denke ja; und es
ſey nun wenig oder viel: ſo iſt es doch immer beſſer als
nichts, beſſer als gar eine Ehre nach dem Tode. Damit
wuͤrde denn aber auch jene chriſtliche Gewohnheit von der
andern Seite noch immer gerechtfertiget; nemlich gegen den
Einwurf, daß man vernunftloſen Menſchen ihre Thaten
nicht zurechnen koͤnne. Wo die Vernunftloſigkeit klar iſt,
und jemand ſich in der Raſerey eines hitzigen Fiebers, oder
in einer offenbaren Verruͤckung den Hals abſtuͤrzt, wird
die Ermaͤßigung ſich ohnehin von ſelbſt finden.

Dem Urtheil Gottes wird aber dadurch gar nicht vor-
gegriffen, daß man demjenigen, der ſich ſelbſt entleibt, den
Kirchhof verſchließt; und den Lebenden zu ihrem eignen Be-
ſten die unfehlbare Verdammniß auf einen vorſetzlichen
Selbſtmord verkuͤndigt. Man wuͤrde vielmehr dem Men-
ſchen einen ſchlechten Dienſt erweiſen, wenn man ihm dieſen
letzten Ankergrund zur Zeit des Sturms entziehen wollte.

Aber die Haupturſache, warum man hierin zu unſern
Zeiten milder iſt, als man ehedem war, liegt wohl in un-
ſer immer ſpeculirenden und raiſonnirenden Philoſophie.
Dieſe entweihet faſt alles; die Kirche oder das Haus wor-
in die Gemeine ſich zum oͤffentlichen Gottesdienſt verſamm-
let, iſt ihr nicht heiliger als der Berg worauf der Nomade
anbetet; die Kirchhoͤfe ſind ihr gemeine Aecker worauf man
die Todten verſcharret; ſie findet es ungroßmuͤthig, dieſe
letzte Ruheſtaͤtte einem armen hingefallenen Pilgrim zu ver-
ſagen, und lehret, daß was Gott im Himmel aufnehme,
wir arme kurzſichtige Geſchoͤpfe in der Gruft nicht trennen
ſollten.

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ſchenliebe, welche alle Hurkinder zunftfaͤhig macht, und

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[74/0088] Alſo ſoll man mit Verſtattung ſollte er die Gruͤnde gegen den Selbſtmord nicht verſtaͤrken? ſollte er die Freunde und Angehoͤrige des Tiefſinnigen nicht in der groͤßten Wachſamkeit halten? ich denke ja; und es ſey nun wenig oder viel: ſo iſt es doch immer beſſer als nichts, beſſer als gar eine Ehre nach dem Tode. Damit wuͤrde denn aber auch jene chriſtliche Gewohnheit von der andern Seite noch immer gerechtfertiget; nemlich gegen den Einwurf, daß man vernunftloſen Menſchen ihre Thaten nicht zurechnen koͤnne. Wo die Vernunftloſigkeit klar iſt, und jemand ſich in der Raſerey eines hitzigen Fiebers, oder in einer offenbaren Verruͤckung den Hals abſtuͤrzt, wird die Ermaͤßigung ſich ohnehin von ſelbſt finden. Dem Urtheil Gottes wird aber dadurch gar nicht vor- gegriffen, daß man demjenigen, der ſich ſelbſt entleibt, den Kirchhof verſchließt; und den Lebenden zu ihrem eignen Be- ſten die unfehlbare Verdammniß auf einen vorſetzlichen Selbſtmord verkuͤndigt. Man wuͤrde vielmehr dem Men- ſchen einen ſchlechten Dienſt erweiſen, wenn man ihm dieſen letzten Ankergrund zur Zeit des Sturms entziehen wollte. Aber die Haupturſache, warum man hierin zu unſern Zeiten milder iſt, als man ehedem war, liegt wohl in un- ſer immer ſpeculirenden und raiſonnirenden Philoſophie. Dieſe entweihet faſt alles; die Kirche oder das Haus wor- in die Gemeine ſich zum oͤffentlichen Gottesdienſt verſamm- let, iſt ihr nicht heiliger als der Berg worauf der Nomade anbetet; die Kirchhoͤfe ſind ihr gemeine Aecker worauf man die Todten verſcharret; ſie findet es ungroßmuͤthig, dieſe letzte Ruheſtaͤtte einem armen hingefallenen Pilgrim zu ver- ſagen, und lehret, daß was Gott im Himmel aufnehme, wir arme kurzſichtige Geſchoͤpfe in der Gruft nicht trennen ſollten. Iſt dieſes nicht aber wiederum die Sprache der Men- ſchenliebe, welche alle Hurkinder zunftfaͤhig macht, und den

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Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, 1778, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien03_1778/88>, abgerufen am 24.11.2024.