ganz neue Art von Erziehung nicht ausgerottet wird; so lange jeder ehrliche Mann sich scheuet eine solche Person zu heyra- then, eben so lange wird auch die stärkste Versuchung zum Kindermord bleiben, und die Bemühungen der Gesetzgeber vereiteln.
Außerdem aber ist die Ehre allezeit ein überaus großes Mit- tel, um dem Laster zu steuren und die Tugend zu erhalten. In Ländern wo die Ehre ihren Werth verliert, müssen die Strafen nothwendig grausam werden; und es scheinet mir überaus be- denklich zu seyn, die Schande eines Verbrechens, wozu die Versuchung allemal gleich stark bleiben wird, zu vermindern, um sich hernach in die Nothwendigkeit grausamer Strafen zu setzen.
So vernünftig und billig die Schande ist, womit unsre Vorfahren dem echten Stande zum Besten eine Hure belegt haben; eben so gerecht und vernünftig ist auch der Flecken, womit sie die unechten Geburten bezeichnet. Es tritt hier eben derselbe Grund ein, und der Vorzug aus einem reinen Ehebette erzeugt zu seyn, muß allen heilig seyn, welche den Ehestand zu befördern wünschen. Nach den göttlichen Ge- setzen müssen die Kinder bis ins vierte Glied ihrer Väter Mis- sethat tragen, um diese so viel kräftiger abzuhalten sich mit Sünden zu beflecken; warum will der philosophische Gesetz- geber hier den göttlichen verbessern? Die Mißheyrath eines Edelmanns wirkt unter dem Schutze der Gesetze bis ins vierte Glied, warum sollte die unehliche Vermischung im bürgerli- chen Stande nicht unter gleicher Begünstigung auf das erste Glied würken? Die Rechte der Menschheit werden in beyden Fällen keinem genommen. In beyden Fällen findet nur eine Ausschließung von gewissen Wohlthaten statt, die der Adel für vollbürtige und der Bürger für echte Kinder ausgesetzt
hat.
Ueber die unſern Zeiten verminderte Schande
ganz neue Art von Erziehung nicht ausgerottet wird; ſo lange jeder ehrliche Mann ſich ſcheuet eine ſolche Perſon zu heyra- then, eben ſo lange wird auch die ſtaͤrkſte Verſuchung zum Kindermord bleiben, und die Bemuͤhungen der Geſetzgeber vereiteln.
Außerdem aber iſt die Ehre allezeit ein uͤberaus großes Mit- tel, um dem Laſter zu ſteuren und die Tugend zu erhalten. In Laͤndern wo die Ehre ihren Werth verliert, muͤſſen die Strafen nothwendig grauſam werden; und es ſcheinet mir uͤberaus be- denklich zu ſeyn, die Schande eines Verbrechens, wozu die Verſuchung allemal gleich ſtark bleiben wird, zu vermindern, um ſich hernach in die Nothwendigkeit grauſamer Strafen zu ſetzen.
So vernuͤnftig und billig die Schande iſt, womit unſre Vorfahren dem echten Stande zum Beſten eine Hure belegt haben; eben ſo gerecht und vernuͤnftig iſt auch der Flecken, womit ſie die unechten Geburten bezeichnet. Es tritt hier eben derſelbe Grund ein, und der Vorzug aus einem reinen Ehebette erzeugt zu ſeyn, muß allen heilig ſeyn, welche den Eheſtand zu befoͤrdern wuͤnſchen. Nach den goͤttlichen Ge- ſetzen muͤſſen die Kinder bis ins vierte Glied ihrer Vaͤter Miſ- ſethat tragen, um dieſe ſo viel kraͤftiger abzuhalten ſich mit Suͤnden zu beflecken; warum will der philoſophiſche Geſetz- geber hier den goͤttlichen verbeſſern? Die Mißheyrath eines Edelmanns wirkt unter dem Schutze der Geſetze bis ins vierte Glied, warum ſollte die unehliche Vermiſchung im buͤrgerli- chen Stande nicht unter gleicher Beguͤnſtigung auf das erſte Glied wuͤrken? Die Rechte der Menſchheit werden in beyden Faͤllen keinem genommen. In beyden Faͤllen findet nur eine Ausſchließung von gewiſſen Wohlthaten ſtatt, die der Adel fuͤr vollbuͤrtige und der Buͤrger fuͤr echte Kinder ausgeſetzt
hat.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0312"n="294"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Ueber die unſern Zeiten verminderte Schande</hi></fw><lb/>
ganz neue Art von Erziehung nicht ausgerottet wird; ſo lange<lb/>
jeder ehrliche Mann ſich ſcheuet eine ſolche Perſon zu heyra-<lb/>
then, eben ſo lange wird auch die ſtaͤrkſte Verſuchung zum<lb/>
Kindermord bleiben, und die Bemuͤhungen der Geſetzgeber<lb/>
vereiteln.</p><lb/><p>Außerdem aber iſt die Ehre allezeit ein uͤberaus großes Mit-<lb/>
tel, um dem Laſter zu ſteuren und die Tugend zu erhalten. In<lb/>
Laͤndern wo die Ehre ihren Werth verliert, muͤſſen die Strafen<lb/>
nothwendig grauſam werden; und es ſcheinet mir uͤberaus be-<lb/>
denklich zu ſeyn, die Schande eines Verbrechens, wozu die<lb/>
Verſuchung allemal gleich ſtark bleiben wird, zu vermindern,<lb/>
um ſich hernach in die Nothwendigkeit grauſamer Strafen zu<lb/>ſetzen.</p><lb/><p>So vernuͤnftig und billig die Schande iſt, womit unſre<lb/>
Vorfahren dem echten Stande zum Beſten eine Hure belegt<lb/>
haben; eben ſo gerecht und vernuͤnftig iſt auch der Flecken,<lb/>
womit ſie die unechten Geburten bezeichnet. Es tritt hier<lb/>
eben derſelbe Grund ein, und der Vorzug aus einem reinen<lb/>
Ehebette erzeugt zu ſeyn, muß allen heilig ſeyn, welche den<lb/>
Eheſtand zu befoͤrdern wuͤnſchen. Nach den goͤttlichen Ge-<lb/>ſetzen muͤſſen die Kinder bis ins vierte Glied ihrer Vaͤter Miſ-<lb/>ſethat tragen, um dieſe ſo viel kraͤftiger abzuhalten ſich mit<lb/>
Suͤnden zu beflecken; warum will der philoſophiſche Geſetz-<lb/>
geber hier den goͤttlichen verbeſſern? Die Mißheyrath eines<lb/>
Edelmanns wirkt unter dem Schutze der Geſetze bis ins vierte<lb/>
Glied, warum ſollte die unehliche Vermiſchung im buͤrgerli-<lb/>
chen Stande nicht unter gleicher Beguͤnſtigung auf das erſte<lb/>
Glied wuͤrken? Die Rechte der Menſchheit werden in beyden<lb/>
Faͤllen keinem genommen. In beyden Faͤllen findet nur eine<lb/>
Ausſchließung von gewiſſen Wohlthaten ſtatt, die der Adel<lb/>
fuͤr vollbuͤrtige und der Buͤrger fuͤr echte Kinder ausgeſetzt<lb/><fwplace="bottom"type="catch">hat.</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[294/0312]
Ueber die unſern Zeiten verminderte Schande
ganz neue Art von Erziehung nicht ausgerottet wird; ſo lange
jeder ehrliche Mann ſich ſcheuet eine ſolche Perſon zu heyra-
then, eben ſo lange wird auch die ſtaͤrkſte Verſuchung zum
Kindermord bleiben, und die Bemuͤhungen der Geſetzgeber
vereiteln.
Außerdem aber iſt die Ehre allezeit ein uͤberaus großes Mit-
tel, um dem Laſter zu ſteuren und die Tugend zu erhalten. In
Laͤndern wo die Ehre ihren Werth verliert, muͤſſen die Strafen
nothwendig grauſam werden; und es ſcheinet mir uͤberaus be-
denklich zu ſeyn, die Schande eines Verbrechens, wozu die
Verſuchung allemal gleich ſtark bleiben wird, zu vermindern,
um ſich hernach in die Nothwendigkeit grauſamer Strafen zu
ſetzen.
So vernuͤnftig und billig die Schande iſt, womit unſre
Vorfahren dem echten Stande zum Beſten eine Hure belegt
haben; eben ſo gerecht und vernuͤnftig iſt auch der Flecken,
womit ſie die unechten Geburten bezeichnet. Es tritt hier
eben derſelbe Grund ein, und der Vorzug aus einem reinen
Ehebette erzeugt zu ſeyn, muß allen heilig ſeyn, welche den
Eheſtand zu befoͤrdern wuͤnſchen. Nach den goͤttlichen Ge-
ſetzen muͤſſen die Kinder bis ins vierte Glied ihrer Vaͤter Miſ-
ſethat tragen, um dieſe ſo viel kraͤftiger abzuhalten ſich mit
Suͤnden zu beflecken; warum will der philoſophiſche Geſetz-
geber hier den goͤttlichen verbeſſern? Die Mißheyrath eines
Edelmanns wirkt unter dem Schutze der Geſetze bis ins vierte
Glied, warum ſollte die unehliche Vermiſchung im buͤrgerli-
chen Stande nicht unter gleicher Beguͤnſtigung auf das erſte
Glied wuͤrken? Die Rechte der Menſchheit werden in beyden
Faͤllen keinem genommen. In beyden Faͤllen findet nur eine
Ausſchließung von gewiſſen Wohlthaten ſtatt, die der Adel
fuͤr vollbuͤrtige und der Buͤrger fuͤr echte Kinder ausgeſetzt
hat.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/312>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.