Daß unsre Vorfahren kluge Köpfe gewesen, beweiset allein der Kerbstock. Keine Erfindung ist simpler und grös- ser wie diese. Die Italiener mögen sich mit ihrer Kunst Buch zu halten, noch so groß dünken: so geht sie doch immer dahin, daß einer den andern zum Schuldner schreiben kan; daß der Mann, der borgt, von seines Gläubigers Redlichkeit oder Willkühr abhängt, anstatt, daß beym Kerbstock Schuldner und Gläubiger gleiche Versicherung haben, sich beständig kon- trolliren und einander nicht betriegen können.
Was wird häufiger geschworen als Eide über Handlungs- bücher, besonders, nachdem auch sogar Handwerker zugelas- sen wurden, Buch zu halten und ihre Rechnungen zu beschwö- ren? Wie mancher Kaufmann hat nicht oft das Seinige ver- lohren oder dem andern aus Irrthum oder Vorsatz zu viel ge- than, nachdem er sich ein oder kein Gewissen daraus gemacht, alles dasjenige zu beschwören, was seine Ladendiener oder Jungen, oder wohl gar eine Frau oder Magd zu Buche ge- bracht haben! Wie mancher kostbarer Proceß ist nicht darüber geführet, ob und wenn der Bestärkungseid in solchen Fällen zuzulassen? Alles dieses hatten unsre Vorfahren beym Kerb- stocke nicht zu fürchten.
Insgemein glaubt man jetzt, der Kerbstock habe nur ge- dient, um Rechnung über Milch, Bier, Brodt und andre Sachen, welche ein gewisses feststehendes Maas haben, zu führen. Allein dieses ist irrig. Der Kerbstock war das älteste Dienst- und Pachtregister, und nichts ist leichter, als
sol-
Vom Kerbſtocke.
XXXVII. Vom Kerbſtocke.
Daß unſre Vorfahren kluge Koͤpfe geweſen, beweiſet allein der Kerbſtock. Keine Erfindung iſt ſimpler und groͤſ- ſer wie dieſe. Die Italiener moͤgen ſich mit ihrer Kunſt Buch zu halten, noch ſo groß duͤnken: ſo geht ſie doch immer dahin, daß einer den andern zum Schuldner ſchreiben kan; daß der Mann, der borgt, von ſeines Glaͤubigers Redlichkeit oder Willkuͤhr abhaͤngt, anſtatt, daß beym Kerbſtock Schuldner und Glaͤubiger gleiche Verſicherung haben, ſich beſtaͤndig kon- trolliren und einander nicht betriegen koͤnnen.
Was wird haͤufiger geſchworen als Eide uͤber Handlungs- buͤcher, beſonders, nachdem auch ſogar Handwerker zugelaſ- ſen wurden, Buch zu halten und ihre Rechnungen zu beſchwoͤ- ren? Wie mancher Kaufmann hat nicht oft das Seinige ver- lohren oder dem andern aus Irrthum oder Vorſatz zu viel ge- than, nachdem er ſich ein oder kein Gewiſſen daraus gemacht, alles dasjenige zu beſchwoͤren, was ſeine Ladendiener oder Jungen, oder wohl gar eine Frau oder Magd zu Buche ge- bracht haben! Wie mancher koſtbarer Proceß iſt nicht daruͤber gefuͤhret, ob und wenn der Beſtaͤrkungseid in ſolchen Faͤllen zuzulaſſen? Alles dieſes hatten unſre Vorfahren beym Kerb- ſtocke nicht zu fuͤrchten.
Insgemein glaubt man jetzt, der Kerbſtock habe nur ge- dient, um Rechnung uͤber Milch, Bier, Brodt und andre Sachen, welche ein gewiſſes feſtſtehendes Maas haben, zu fuͤhren. Allein dieſes iſt irrig. Der Kerbſtock war das aͤlteſte Dienſt- und Pachtregiſter, und nichts iſt leichter, als
ſol-
<TEI><text><body><pbfacs="#f0289"n="271"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Vom Kerbſtocke.</hi></fw><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="1"><head><hirendition="#b"><hirendition="#aq">XXXVII.</hi><lb/>
Vom Kerbſtocke.</hi></head><lb/><p>Daß unſre Vorfahren kluge Koͤpfe geweſen, beweiſet allein<lb/>
der <hirendition="#fr">Kerbſtock.</hi> Keine Erfindung iſt ſimpler und groͤſ-<lb/>ſer wie dieſe. Die Italiener moͤgen ſich mit ihrer Kunſt Buch<lb/>
zu halten, noch ſo groß duͤnken: ſo geht ſie doch immer dahin,<lb/>
daß einer den andern zum Schuldner ſchreiben kan; daß der<lb/>
Mann, der borgt, von ſeines Glaͤubigers Redlichkeit oder<lb/>
Willkuͤhr abhaͤngt, anſtatt, daß beym Kerbſtock Schuldner<lb/>
und Glaͤubiger gleiche Verſicherung haben, ſich beſtaͤndig kon-<lb/>
trolliren und einander nicht betriegen koͤnnen.</p><lb/><p>Was wird haͤufiger geſchworen als Eide uͤber Handlungs-<lb/>
buͤcher, beſonders, nachdem auch ſogar Handwerker zugelaſ-<lb/>ſen wurden, Buch zu halten und ihre Rechnungen zu beſchwoͤ-<lb/>
ren? Wie mancher Kaufmann hat nicht oft das Seinige ver-<lb/>
lohren oder dem andern aus Irrthum oder Vorſatz zu viel ge-<lb/>
than, nachdem er ſich ein oder kein Gewiſſen daraus gemacht,<lb/>
alles dasjenige zu beſchwoͤren, was ſeine Ladendiener oder<lb/>
Jungen, oder wohl gar eine Frau oder Magd zu Buche ge-<lb/>
bracht haben! Wie mancher koſtbarer Proceß iſt nicht daruͤber<lb/>
gefuͤhret, ob und wenn der Beſtaͤrkungseid in ſolchen Faͤllen<lb/>
zuzulaſſen? Alles dieſes hatten unſre Vorfahren beym Kerb-<lb/>ſtocke nicht zu fuͤrchten.</p><lb/><p>Insgemein glaubt man jetzt, der Kerbſtock habe nur ge-<lb/>
dient, um Rechnung uͤber Milch, Bier, Brodt und andre<lb/>
Sachen, welche ein gewiſſes feſtſtehendes Maas haben, zu<lb/>
fuͤhren. Allein dieſes iſt irrig. Der Kerbſtock war das<lb/>
aͤlteſte Dienſt- und Pachtregiſter, und nichts iſt leichter, als<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſol-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[271/0289]
Vom Kerbſtocke.
XXXVII.
Vom Kerbſtocke.
Daß unſre Vorfahren kluge Koͤpfe geweſen, beweiſet allein
der Kerbſtock. Keine Erfindung iſt ſimpler und groͤſ-
ſer wie dieſe. Die Italiener moͤgen ſich mit ihrer Kunſt Buch
zu halten, noch ſo groß duͤnken: ſo geht ſie doch immer dahin,
daß einer den andern zum Schuldner ſchreiben kan; daß der
Mann, der borgt, von ſeines Glaͤubigers Redlichkeit oder
Willkuͤhr abhaͤngt, anſtatt, daß beym Kerbſtock Schuldner
und Glaͤubiger gleiche Verſicherung haben, ſich beſtaͤndig kon-
trolliren und einander nicht betriegen koͤnnen.
Was wird haͤufiger geſchworen als Eide uͤber Handlungs-
buͤcher, beſonders, nachdem auch ſogar Handwerker zugelaſ-
ſen wurden, Buch zu halten und ihre Rechnungen zu beſchwoͤ-
ren? Wie mancher Kaufmann hat nicht oft das Seinige ver-
lohren oder dem andern aus Irrthum oder Vorſatz zu viel ge-
than, nachdem er ſich ein oder kein Gewiſſen daraus gemacht,
alles dasjenige zu beſchwoͤren, was ſeine Ladendiener oder
Jungen, oder wohl gar eine Frau oder Magd zu Buche ge-
bracht haben! Wie mancher koſtbarer Proceß iſt nicht daruͤber
gefuͤhret, ob und wenn der Beſtaͤrkungseid in ſolchen Faͤllen
zuzulaſſen? Alles dieſes hatten unſre Vorfahren beym Kerb-
ſtocke nicht zu fuͤrchten.
Insgemein glaubt man jetzt, der Kerbſtock habe nur ge-
dient, um Rechnung uͤber Milch, Bier, Brodt und andre
Sachen, welche ein gewiſſes feſtſtehendes Maas haben, zu
fuͤhren. Allein dieſes iſt irrig. Der Kerbſtock war das
aͤlteſte Dienſt- und Pachtregiſter, und nichts iſt leichter, als
ſol-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 2. Berlin, 1776, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien02_1776/289>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.