Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite

Schreiben einer Dame an ihren Capellan
so wahr ich ehrlich bin, ich mußte mich um 6 Uhr wieder nie-
derlegen, blos um mich von der Langenweile zu erholen. Was
für ein entsetzlicher Morgen war dieser! Es fror mich; ich
gähnte, mein Cammermädgen grämelte; die Leute murreten;
und die ganze Haushaltung gerieth in Unordnung. Ich las
ein Buch, ohne das gelesene zu empfinden; ich war geschäf-
tig ohne was zu beschicken; dabey regnete es, sonst wäre ich
wohl hingegangen um ein bisgen im Holze bey den Nachti-
gallen zu schaudern. Kurz, den ganzen Tag über war mir
nicht wohl; und da that ich ein Gelübde niemals ohne die
höchste Noth vor 8 Uhren aufzustehen.

Eben so bin ich einmal des Nachmittags zu Hause und
allein geblieben. Um 4 Uhr trank ich meinen Caffee; um
5 Uhr Thee; um 6 Uhr ward ich etwas matt; ich ließ mir
meine Tropfen und eine kleine Bouteille Kapwein geben. Ich
nahm etwas davon und las; nahm wieder ein Bisgen, und
was meynen sie? -- Aus war die Bouteille ehe es achte
schlug. Bey Tische des Abends war ich nicht ein bisgen hei-
ter, und alles was ich mit Mühe herunter bringen konnte, war
eine Tasse Chocolade, und nach Tische mußte ich mich gleich
zu Bette legen. So übel lief dieser Versuch ab.

Was aber bey dem allen das beste seyn mag, mein
Herr Capellan; so preise ich die Leute glücklich, die alle Tage
16 Stunde mit nützlichen Arbeiten zubringen können; ich be-
neide sie sogar, wenn dieses etwas zu meiner Entschuldigung
helfen kann. Ja mich dünkt, daß Leute die im Leben so
glücklich sind, alle ihre Stunden nützlich hinbringen zu kön-
nen, wenn es dermaleinst zur Rechnung kommen sollte, min-
dern Lohn verdient haben, als ich, der es so sauer wird nur
eine Stunde ohne Schlaf, Spiel oder Essen zu nutzen. Ich
spreche im Ernst; die Tage gehen mir so langsam und die

Jahre

Schreiben einer Dame an ihren Capellan
ſo wahr ich ehrlich bin, ich mußte mich um 6 Uhr wieder nie-
derlegen, blos um mich von der Langenweile zu erholen. Was
fuͤr ein entſetzlicher Morgen war dieſer! Es fror mich; ich
gaͤhnte, mein Cammermaͤdgen graͤmelte; die Leute murreten;
und die ganze Haushaltung gerieth in Unordnung. Ich las
ein Buch, ohne das geleſene zu empfinden; ich war geſchaͤf-
tig ohne was zu beſchicken; dabey regnete es, ſonſt waͤre ich
wohl hingegangen um ein bisgen im Holze bey den Nachti-
gallen zu ſchaudern. Kurz, den ganzen Tag uͤber war mir
nicht wohl; und da that ich ein Geluͤbde niemals ohne die
hoͤchſte Noth vor 8 Uhren aufzuſtehen.

Eben ſo bin ich einmal des Nachmittags zu Hauſe und
allein geblieben. Um 4 Uhr trank ich meinen Caffee; um
5 Uhr Thee; um 6 Uhr ward ich etwas matt; ich ließ mir
meine Tropfen und eine kleine Bouteille Kapwein geben. Ich
nahm etwas davon und las; nahm wieder ein Bisgen, und
was meynen ſie? — Aus war die Bouteille ehe es achte
ſchlug. Bey Tiſche des Abends war ich nicht ein bisgen hei-
ter, und alles was ich mit Muͤhe herunter bringen konnte, war
eine Taſſe Chocolade, und nach Tiſche mußte ich mich gleich
zu Bette legen. So uͤbel lief dieſer Verſuch ab.

Was aber bey dem allen das beſte ſeyn mag, mein
Herr Capellan; ſo preiſe ich die Leute gluͤcklich, die alle Tage
16 Stunde mit nuͤtzlichen Arbeiten zubringen koͤnnen; ich be-
neide ſie ſogar, wenn dieſes etwas zu meiner Entſchuldigung
helfen kann. Ja mich duͤnkt, daß Leute die im Leben ſo
gluͤcklich ſind, alle ihre Stunden nuͤtzlich hinbringen zu koͤn-
nen, wenn es dermaleinſt zur Rechnung kommen ſollte, min-
dern Lohn verdient haben, als ich, der es ſo ſauer wird nur
eine Stunde ohne Schlaf, Spiel oder Eſſen zu nutzen. Ich
ſpreche im Ernſt; die Tage gehen mir ſo langſam und die

Jahre
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0298" n="280"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Schreiben einer Dame an ihren Capellan</hi></fw><lb/>
&#x017F;o wahr ich ehrlich bin, ich mußte mich um 6 Uhr wieder nie-<lb/>
derlegen, blos um mich von der Langenweile zu erholen. Was<lb/>
fu&#x0364;r ein ent&#x017F;etzlicher Morgen war die&#x017F;er! Es fror mich; ich<lb/>
ga&#x0364;hnte, mein Cammerma&#x0364;dgen gra&#x0364;melte; die Leute murreten;<lb/>
und die ganze Haushaltung gerieth in Unordnung. Ich las<lb/>
ein Buch, ohne das gele&#x017F;ene zu empfinden; ich war ge&#x017F;cha&#x0364;f-<lb/>
tig ohne was zu be&#x017F;chicken; dabey regnete es, &#x017F;on&#x017F;t wa&#x0364;re ich<lb/>
wohl hingegangen um ein bisgen im Holze bey den Nachti-<lb/>
gallen zu &#x017F;chaudern. Kurz, den ganzen Tag u&#x0364;ber war mir<lb/>
nicht wohl; und da that ich ein Gelu&#x0364;bde niemals ohne die<lb/>
ho&#x0364;ch&#x017F;te Noth vor 8 Uhren aufzu&#x017F;tehen.</p><lb/>
        <p>Eben &#x017F;o bin ich einmal des Nachmittags zu Hau&#x017F;e und<lb/>
allein geblieben. Um 4 Uhr trank ich meinen Caffee; um<lb/>
5 Uhr Thee; um 6 Uhr ward ich etwas matt; ich ließ mir<lb/>
meine Tropfen und eine kleine Bouteille Kapwein geben. Ich<lb/>
nahm etwas davon und las; nahm wieder ein Bisgen, und<lb/>
was meynen &#x017F;ie? &#x2014; Aus war die Bouteille ehe es achte<lb/>
&#x017F;chlug. Bey Ti&#x017F;che des Abends war ich nicht ein bisgen hei-<lb/>
ter, und alles was ich mit Mu&#x0364;he herunter bringen konnte, war<lb/>
eine Ta&#x017F;&#x017F;e Chocolade, und nach Ti&#x017F;che mußte ich mich gleich<lb/>
zu Bette legen. So u&#x0364;bel lief die&#x017F;er Ver&#x017F;uch ab.</p><lb/>
        <p>Was aber bey dem allen das be&#x017F;te &#x017F;eyn mag, mein<lb/>
Herr Capellan; &#x017F;o prei&#x017F;e ich die Leute glu&#x0364;cklich, die alle Tage<lb/>
16 Stunde mit nu&#x0364;tzlichen Arbeiten zubringen ko&#x0364;nnen; ich be-<lb/>
neide &#x017F;ie &#x017F;ogar, wenn die&#x017F;es etwas zu meiner Ent&#x017F;chuldigung<lb/>
helfen kann. Ja mich du&#x0364;nkt, daß Leute die im Leben &#x017F;o<lb/>
glu&#x0364;cklich &#x017F;ind, alle ihre Stunden nu&#x0364;tzlich hinbringen zu ko&#x0364;n-<lb/>
nen, wenn es dermalein&#x017F;t zur Rechnung kommen &#x017F;ollte, min-<lb/>
dern Lohn verdient haben, als ich, der es &#x017F;o &#x017F;auer wird nur<lb/>
eine Stunde ohne Schlaf, Spiel oder E&#x017F;&#x017F;en zu nutzen. Ich<lb/>
&#x017F;preche im Ern&#x017F;t; die Tage gehen mir &#x017F;o lang&#x017F;am und die<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Jahre</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[280/0298] Schreiben einer Dame an ihren Capellan ſo wahr ich ehrlich bin, ich mußte mich um 6 Uhr wieder nie- derlegen, blos um mich von der Langenweile zu erholen. Was fuͤr ein entſetzlicher Morgen war dieſer! Es fror mich; ich gaͤhnte, mein Cammermaͤdgen graͤmelte; die Leute murreten; und die ganze Haushaltung gerieth in Unordnung. Ich las ein Buch, ohne das geleſene zu empfinden; ich war geſchaͤf- tig ohne was zu beſchicken; dabey regnete es, ſonſt waͤre ich wohl hingegangen um ein bisgen im Holze bey den Nachti- gallen zu ſchaudern. Kurz, den ganzen Tag uͤber war mir nicht wohl; und da that ich ein Geluͤbde niemals ohne die hoͤchſte Noth vor 8 Uhren aufzuſtehen. Eben ſo bin ich einmal des Nachmittags zu Hauſe und allein geblieben. Um 4 Uhr trank ich meinen Caffee; um 5 Uhr Thee; um 6 Uhr ward ich etwas matt; ich ließ mir meine Tropfen und eine kleine Bouteille Kapwein geben. Ich nahm etwas davon und las; nahm wieder ein Bisgen, und was meynen ſie? — Aus war die Bouteille ehe es achte ſchlug. Bey Tiſche des Abends war ich nicht ein bisgen hei- ter, und alles was ich mit Muͤhe herunter bringen konnte, war eine Taſſe Chocolade, und nach Tiſche mußte ich mich gleich zu Bette legen. So uͤbel lief dieſer Verſuch ab. Was aber bey dem allen das beſte ſeyn mag, mein Herr Capellan; ſo preiſe ich die Leute gluͤcklich, die alle Tage 16 Stunde mit nuͤtzlichen Arbeiten zubringen koͤnnen; ich be- neide ſie ſogar, wenn dieſes etwas zu meiner Entſchuldigung helfen kann. Ja mich duͤnkt, daß Leute die im Leben ſo gluͤcklich ſind, alle ihre Stunden nuͤtzlich hinbringen zu koͤn- nen, wenn es dermaleinſt zur Rechnung kommen ſollte, min- dern Lohn verdient haben, als ich, der es ſo ſauer wird nur eine Stunde ohne Schlaf, Spiel oder Eſſen zu nutzen. Ich ſpreche im Ernſt; die Tage gehen mir ſo langſam und die Jahre

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/298
Zitationshilfe: Möser, Justus: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Berlin, 1775, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moeser_phantasien01_1775/298>, abgerufen am 25.11.2024.