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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

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sich fügen soll. Beharrlich schweigt sein Herz, ohne
irgend etwas zu begehren, und nur augenblicklich, wenn
er sich das Ziel seiner Reise vergegenwärtigt, kann
ein süßes Erschrecken ihn befallen.

Er hat mit seinem muntern Pferde schon in der
vierten Tagreise das Ende des Gebirgs erreicht, das
die Landesgränze bezeichnet und von dessen Höhe aus
man eine weite Fläche vor sich verbreitet sieht. Es
war ein warmer Nachmittag. Gemächlich ritt er die
lange Steige hinunter und machte am Fuß derselben
Halt. Er führte sein Pferd seitwärts von der Straße,
band es an eine der lezten Buchen des Waldes, wo
zwischen kleinem Felsgestein ein frisches Wasser vor-
quoll. Er selber sezte sich auf eine erhöhte, mit jun-
gem Moos bewachsene Stelle und schaute auf die
reiche Ebene, welche in größerer und kleinerer Ent-
fernung verschiedene Ortschaften und die glänzende
Krümmung eines ansehnlichen Flusses zeigte. Ein Schäfer
zog pfeifend unten über die Flur, überall wirbelten Ler-
chen, und Schlüsselblumen dufteten in nächster Nähe.

Den Maler übernahm eine mächtige Sehnsucht,
worein sich, wie ihm däuchte, weder Neuburg, noch ir-
gend eine bekannte Persönlichkeit mischte, ein süßer
Drang nach einem namenlosen Gute, das ihn allent-
halben aus den rührenden Gestalten der Natur so
zärtlich anzulocken und doch wieder in eine unendliche
Ferne sich ihm zu entziehen schien. So hing er sei-
nen Träumen nach und wir wollen ihnen, da sie sich

ſich fügen ſoll. Beharrlich ſchweigt ſein Herz, ohne
irgend etwas zu begehren, und nur augenblicklich, wenn
er ſich das Ziel ſeiner Reiſe vergegenwärtigt, kann
ein ſüßes Erſchrecken ihn befallen.

Er hat mit ſeinem muntern Pferde ſchon in der
vierten Tagreiſe das Ende des Gebirgs erreicht, das
die Landesgränze bezeichnet und von deſſen Höhe aus
man eine weite Fläche vor ſich verbreitet ſieht. Es
war ein warmer Nachmittag. Gemächlich ritt er die
lange Steige hinunter und machte am Fuß derſelben
Halt. Er führte ſein Pferd ſeitwärts von der Straße,
band es an eine der lezten Buchen des Waldes, wo
zwiſchen kleinem Felsgeſtein ein friſches Waſſer vor-
quoll. Er ſelber ſezte ſich auf eine erhöhte, mit jun-
gem Moos bewachſene Stelle und ſchaute auf die
reiche Ebene, welche in größerer und kleinerer Ent-
fernung verſchiedene Ortſchaften und die glänzende
Krümmung eines anſehnlichen Fluſſes zeigte. Ein Schäfer
zog pfeifend unten über die Flur, überall wirbelten Ler-
chen, und Schlüſſelblumen dufteten in nächſter Nähe.

Den Maler übernahm eine mächtige Sehnſucht,
worein ſich, wie ihm däuchte, weder Neuburg, noch ir-
gend eine bekannte Perſönlichkeit miſchte, ein ſüßer
Drang nach einem namenloſen Gute, das ihn allent-
halben aus den rührenden Geſtalten der Natur ſo
zärtlich anzulocken und doch wieder in eine unendliche
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[393/0079] ſich fügen ſoll. Beharrlich ſchweigt ſein Herz, ohne irgend etwas zu begehren, und nur augenblicklich, wenn er ſich das Ziel ſeiner Reiſe vergegenwärtigt, kann ein ſüßes Erſchrecken ihn befallen. Er hat mit ſeinem muntern Pferde ſchon in der vierten Tagreiſe das Ende des Gebirgs erreicht, das die Landesgränze bezeichnet und von deſſen Höhe aus man eine weite Fläche vor ſich verbreitet ſieht. Es war ein warmer Nachmittag. Gemächlich ritt er die lange Steige hinunter und machte am Fuß derſelben Halt. Er führte ſein Pferd ſeitwärts von der Straße, band es an eine der lezten Buchen des Waldes, wo zwiſchen kleinem Felsgeſtein ein friſches Waſſer vor- quoll. Er ſelber ſezte ſich auf eine erhöhte, mit jun- gem Moos bewachſene Stelle und ſchaute auf die reiche Ebene, welche in größerer und kleinerer Ent- fernung verſchiedene Ortſchaften und die glänzende Krümmung eines anſehnlichen Fluſſes zeigte. Ein Schäfer zog pfeifend unten über die Flur, überall wirbelten Ler- chen, und Schlüſſelblumen dufteten in nächſter Nähe. Den Maler übernahm eine mächtige Sehnſucht, worein ſich, wie ihm däuchte, weder Neuburg, noch ir- gend eine bekannte Perſönlichkeit miſchte, ein ſüßer Drang nach einem namenloſen Gute, das ihn allent- halben aus den rührenden Geſtalten der Natur ſo zärtlich anzulocken und doch wieder in eine unendliche Ferne ſich ihm zu entziehen ſchien. So hing er ſei- nen Träumen nach und wir wollen ihnen, da ſie ſich

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/79>, abgerufen am 25.11.2024.