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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

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wegt; unbeschreibliche Sehnsucht ergriff ihn, doch diese
Sehnsucht selbst war nur das überglückliche Gefühl,
die unfaßliche Ahnung einer himmlischen Zukunft,
welche auch seiner warte. Er trat an's Fenster und
öffnete es. Die Nacht war sehr unfreundlich; ein
heftiger Sturm wiegte und schwang die hohen Gipfel
der Bäume, und auf dem Dache klirrten die Fahnen
zusammen. Des Knaben wunderbar erregte Seele
überließ sich diesem Tumulte mit heimlichem Jauchzen,
er ließ den Sturm seine Locken durchwühlen und
lauschte mit Wollust dem hundertstimmigen Winde.
Es däuchten ihm seufzende Geisterchöre der gebunde-
nen Kreatur zu seyn, die auch mit Ungeduld einer
herrlichen Offenbarung entgegenharre. Sein ganzes
Denken und Empfinden war nur ein trunkenes Lob-
lied auf Tod und Verwesung und ewiges Verjüngen.
Mit Gewalt muß er den Flug seiner Gedanken rück-
wärts lenken, der Demuth eingedenk, die Gott nicht
vorzugreifen wagt. Aber, wie er nun wieder zu Ag-
nesens
Hülle tritt, ist ihm wie einem, der zu lange
in das Feuerbild der Sonne geschaut, er sinkt in dop-
pelt schmerzliche Blindheit zurück. Still sezt er sich
nieder, und schickt sich an, einen Kranz von Rosen
und Myrthen zu Ende zu flechten.

Nach Mitternacht erweckt indeß den Maler ein
sonderbarer Klang, den er anfänglich bloß im Traum
gehört zu haben glaubt, bald aber kann er sich völlig
überzeugen, daß es Musik ist, welche von dem linken

wegt; unbeſchreibliche Sehnſucht ergriff ihn, doch dieſe
Sehnſucht ſelbſt war nur das überglückliche Gefühl,
die unfaßliche Ahnung einer himmliſchen Zukunft,
welche auch ſeiner warte. Er trat an’s Fenſter und
öffnete es. Die Nacht war ſehr unfreundlich; ein
heftiger Sturm wiegte und ſchwang die hohen Gipfel
der Bäume, und auf dem Dache klirrten die Fahnen
zuſammen. Des Knaben wunderbar erregte Seele
überließ ſich dieſem Tumulte mit heimlichem Jauchzen,
er ließ den Sturm ſeine Locken durchwühlen und
lauſchte mit Wolluſt dem hundertſtimmigen Winde.
Es däuchten ihm ſeufzende Geiſterchöre der gebunde-
nen Kreatur zu ſeyn, die auch mit Ungeduld einer
herrlichen Offenbarung entgegenharre. Sein ganzes
Denken und Empfinden war nur ein trunkenes Lob-
lied auf Tod und Verweſung und ewiges Verjüngen.
Mit Gewalt muß er den Flug ſeiner Gedanken rück-
wärts lenken, der Demuth eingedenk, die Gott nicht
vorzugreifen wagt. Aber, wie er nun wieder zu Ag-
neſens
Hülle tritt, iſt ihm wie einem, der zu lange
in das Feuerbild der Sonne geſchaut, er ſinkt in dop-
pelt ſchmerzliche Blindheit zurück. Still ſezt er ſich
nieder, und ſchickt ſich an, einen Kranz von Roſen
und Myrthen zu Ende zu flechten.

Nach Mitternacht erweckt indeß den Maler ein
ſonderbarer Klang, den er anfänglich bloß im Traum
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[629/0315] wegt; unbeſchreibliche Sehnſucht ergriff ihn, doch dieſe Sehnſucht ſelbſt war nur das überglückliche Gefühl, die unfaßliche Ahnung einer himmliſchen Zukunft, welche auch ſeiner warte. Er trat an’s Fenſter und öffnete es. Die Nacht war ſehr unfreundlich; ein heftiger Sturm wiegte und ſchwang die hohen Gipfel der Bäume, und auf dem Dache klirrten die Fahnen zuſammen. Des Knaben wunderbar erregte Seele überließ ſich dieſem Tumulte mit heimlichem Jauchzen, er ließ den Sturm ſeine Locken durchwühlen und lauſchte mit Wolluſt dem hundertſtimmigen Winde. Es däuchten ihm ſeufzende Geiſterchöre der gebunde- nen Kreatur zu ſeyn, die auch mit Ungeduld einer herrlichen Offenbarung entgegenharre. Sein ganzes Denken und Empfinden war nur ein trunkenes Lob- lied auf Tod und Verweſung und ewiges Verjüngen. Mit Gewalt muß er den Flug ſeiner Gedanken rück- wärts lenken, der Demuth eingedenk, die Gott nicht vorzugreifen wagt. Aber, wie er nun wieder zu Ag- neſens Hülle tritt, iſt ihm wie einem, der zu lange in das Feuerbild der Sonne geſchaut, er ſinkt in dop- pelt ſchmerzliche Blindheit zurück. Still ſezt er ſich nieder, und ſchickt ſich an, einen Kranz von Roſen und Myrthen zu Ende zu flechten. Nach Mitternacht erweckt indeß den Maler ein ſonderbarer Klang, den er anfänglich bloß im Traum gehört zu haben glaubt, bald aber kann er ſich völlig überzeugen, daß es Muſik iſt, welche von dem linken

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 629. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/315>, abgerufen am 22.11.2024.