Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

behauptete er, sey auf die Kranke vom übelsten Ein-
fluß, indem sie sich dadurch in ihrem eingebilde-
ten Elend, in ihrer Mitleidswürdigkeit nur immer mehr
müsse bestärkt fühlen.

Inzwischen erreichte man doch mehrere Vortheile
über sie. Die Mädchen durften ungehindert bei ihr
aus- und eingehn; nur gegen das Fräulein, trotz der
schwesterlichsten Liebe, womit diese ihr stets nahe zu
seyn wünschte, verrieth sie ein deutliches Mißtrauen.
Sie verließ ihr Zimmer manchmal und ging an die fri-
sche Luft, wenn sie versichert seyn konnte, Theobalden
nicht zu begegnen. Ihn aber hie und da von der
Ferne zu beobachten, war ihr offenbar nicht zuwider,
ja man wollte bemerken, daß sie sich die Gelegenheit
hiezu geflissentlich ersehe. Stundenlang las der Prä-
sident ihr vor; sie bezeugte sich immer sehr ernst, doch
gefällig und dankbar. Ein Hinterhalt in ihren Ge-
danken, ein schlaues Ausweichen, je nachdem ein Ge-
genstand zur Sprache kam, war unverkennbar; sie
führte irgend etwas im Schilde und schien nur den
günstigen Zeitpunkt abzuwarten.

Diese geheime Absicht offenbarte sich denn auch
gar bald. Der alte Gärtner machte eines Tags dem
Präsidenten in aller Stille die Entdeckung: Agnes
habe ihn auf das Flehentlichste beschworen, daß er
ihr Gelegenheit verschaffe, aus dem Schlosse zu ent-
kommen und nach ihrer Heimath zu reisen. Dabei
habe sie ihm alles Mögliche versprochen, auch selbst

behauptete er, ſey auf die Kranke vom übelſten Ein-
fluß, indem ſie ſich dadurch in ihrem eingebilde-
ten Elend, in ihrer Mitleidswürdigkeit nur immer mehr
müſſe beſtärkt fühlen.

Inzwiſchen erreichte man doch mehrere Vortheile
über ſie. Die Mädchen durften ungehindert bei ihr
aus- und eingehn; nur gegen das Fräulein, trotz der
ſchweſterlichſten Liebe, womit dieſe ihr ſtets nahe zu
ſeyn wünſchte, verrieth ſie ein deutliches Mißtrauen.
Sie verließ ihr Zimmer manchmal und ging an die fri-
ſche Luft, wenn ſie verſichert ſeyn konnte, Theobalden
nicht zu begegnen. Ihn aber hie und da von der
Ferne zu beobachten, war ihr offenbar nicht zuwider,
ja man wollte bemerken, daß ſie ſich die Gelegenheit
hiezu gefliſſentlich erſehe. Stundenlang las der Prä-
ſident ihr vor; ſie bezeugte ſich immer ſehr ernſt, doch
gefällig und dankbar. Ein Hinterhalt in ihren Ge-
danken, ein ſchlaues Ausweichen, je nachdem ein Ge-
genſtand zur Sprache kam, war unverkennbar; ſie
führte irgend etwas im Schilde und ſchien nur den
günſtigen Zeitpunkt abzuwarten.

Dieſe geheime Abſicht offenbarte ſich denn auch
gar bald. Der alte Gärtner machte eines Tags dem
Präſidenten in aller Stille die Entdeckung: Agnes
habe ihn auf das Flehentlichſte beſchworen, daß er
ihr Gelegenheit verſchaffe, aus dem Schloſſe zu ent-
kommen und nach ihrer Heimath zu reiſen. Dabei
habe ſie ihm alles Mögliche verſprochen, auch ſelbſt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0272" n="586"/>
behauptete er, &#x017F;ey auf die Kranke vom übel&#x017F;ten Ein-<lb/>
fluß, indem &#x017F;ie &#x017F;ich dadurch in ihrem eingebilde-<lb/>
ten Elend, in ihrer Mitleidswürdigkeit nur immer mehr<lb/>&#x017F;&#x017F;e be&#x017F;tärkt fühlen.</p><lb/>
          <p>Inzwi&#x017F;chen erreichte man doch mehrere Vortheile<lb/>
über &#x017F;ie. Die Mädchen durften ungehindert bei ihr<lb/>
aus- und eingehn; nur gegen das Fräulein, trotz der<lb/>
&#x017F;chwe&#x017F;terlich&#x017F;ten Liebe, womit die&#x017F;e ihr &#x017F;tets nahe zu<lb/>
&#x017F;eyn wün&#x017F;chte, verrieth &#x017F;ie ein deutliches Mißtrauen.<lb/>
Sie verließ ihr Zimmer manchmal und ging an die fri-<lb/>
&#x017F;che Luft, wenn &#x017F;ie ver&#x017F;ichert &#x017F;eyn konnte, <hi rendition="#g">Theobalden</hi><lb/>
nicht zu begegnen. Ihn aber hie und da von der<lb/>
Ferne zu beobachten, war ihr offenbar nicht zuwider,<lb/>
ja man wollte bemerken, daß &#x017F;ie &#x017F;ich die Gelegenheit<lb/>
hiezu gefli&#x017F;&#x017F;entlich er&#x017F;ehe. Stundenlang las der Prä-<lb/>
&#x017F;ident ihr vor; &#x017F;ie bezeugte &#x017F;ich immer &#x017F;ehr ern&#x017F;t, doch<lb/>
gefällig und dankbar. Ein Hinterhalt in ihren Ge-<lb/>
danken, ein &#x017F;chlaues Ausweichen, je nachdem ein Ge-<lb/>
gen&#x017F;tand zur Sprache kam, war unverkennbar; &#x017F;ie<lb/>
führte irgend etwas im Schilde und &#x017F;chien nur den<lb/>
gün&#x017F;tigen Zeitpunkt abzuwarten.</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;e geheime Ab&#x017F;icht offenbarte &#x017F;ich denn auch<lb/>
gar bald. Der alte Gärtner machte eines Tags dem<lb/>
Prä&#x017F;identen in aller Stille die Entdeckung: <hi rendition="#g">Agnes</hi><lb/>
habe ihn auf das Flehentlich&#x017F;te be&#x017F;chworen, daß er<lb/>
ihr Gelegenheit ver&#x017F;chaffe, aus dem Schlo&#x017F;&#x017F;e zu ent-<lb/>
kommen und nach ihrer Heimath zu rei&#x017F;en. Dabei<lb/>
habe &#x017F;ie ihm alles Mögliche ver&#x017F;prochen, auch &#x017F;elb&#x017F;t<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[586/0272] behauptete er, ſey auf die Kranke vom übelſten Ein- fluß, indem ſie ſich dadurch in ihrem eingebilde- ten Elend, in ihrer Mitleidswürdigkeit nur immer mehr müſſe beſtärkt fühlen. Inzwiſchen erreichte man doch mehrere Vortheile über ſie. Die Mädchen durften ungehindert bei ihr aus- und eingehn; nur gegen das Fräulein, trotz der ſchweſterlichſten Liebe, womit dieſe ihr ſtets nahe zu ſeyn wünſchte, verrieth ſie ein deutliches Mißtrauen. Sie verließ ihr Zimmer manchmal und ging an die fri- ſche Luft, wenn ſie verſichert ſeyn konnte, Theobalden nicht zu begegnen. Ihn aber hie und da von der Ferne zu beobachten, war ihr offenbar nicht zuwider, ja man wollte bemerken, daß ſie ſich die Gelegenheit hiezu gefliſſentlich erſehe. Stundenlang las der Prä- ſident ihr vor; ſie bezeugte ſich immer ſehr ernſt, doch gefällig und dankbar. Ein Hinterhalt in ihren Ge- danken, ein ſchlaues Ausweichen, je nachdem ein Ge- genſtand zur Sprache kam, war unverkennbar; ſie führte irgend etwas im Schilde und ſchien nur den günſtigen Zeitpunkt abzuwarten. Dieſe geheime Abſicht offenbarte ſich denn auch gar bald. Der alte Gärtner machte eines Tags dem Präſidenten in aller Stille die Entdeckung: Agnes habe ihn auf das Flehentlichſte beſchworen, daß er ihr Gelegenheit verſchaffe, aus dem Schloſſe zu ent- kommen und nach ihrer Heimath zu reiſen. Dabei habe ſie ihm alles Mögliche verſprochen, auch ſelbſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/272
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 586. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/272>, abgerufen am 24.11.2024.