seyn, wer bleibt noch Mensch, wenn der barmherzige Himmel sich in Grausamkeiten erschöpft? Was? wär's ein Wunder, wenn hier auf der Stelle mich selbst ein tobender Wahnsinn ergriffe, mich fühllos machte gegen das Aeußerste, Lezte, das -- o ich seh es unaufhalt- sam näher kommen! Was klag' ich hier? was stehn wir Alle hier? und droben der Engel ringt zwischen Leben und Tod -- Sie stirbt! Sie stirbt! Soll ich sie sehn? kann ich sie noch retten? O folgt mir! -- Wohin? dort kommt Margot eben von ihr! Ja -- ja -- auf ihrer Miene kann ich es lesen -- Es ist geschehen -- mit Agnes, mit Agnes ist es vorbei! -- Hinweg! laßt mich fliehen! fliehen an's Ende der Welt" -- Kraftvoll hält ihn Elisabeth fest, er stößt im ungeheuren Schmerz ein entsetzliches Wort gegen sie aus, aber sie umfaßt mit Geschrei seine Kniee und er kann sich nicht rühren. Der Präsident wendet das Auge von der herzzerreissenden Scene. "Weh! Wehe!" ruft Elisabeth, "wenn mein Geliebter mir flucht, so zittert der Stern, unter dem er geboren! Erkennst du mich denn nicht? Liebster! erkenne mich! Was hat mich hergetrieben? was hat mich die weiten Wege gelehrt? Schau an, diese blutenden Sohlen! Die Liebe, du böser, undankbarer Junge, war allwärts hinter mir her. Im gelben Sonnenbrand, durch Nacht und Ungewitter, durch Dorn und Sumpf keucht sehnende Liebe, ist unermüdlich, ist unertödtlich, das arme Le- ben! und freut sich so süßer, so wilder Plage, und
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ſeyn, wer bleibt noch Menſch, wenn der barmherzige Himmel ſich in Grauſamkeiten erſchöpft? Was? wär’s ein Wunder, wenn hier auf der Stelle mich ſelbſt ein tobender Wahnſinn ergriffe, mich fühllos machte gegen das Aeußerſte, Lezte, das — o ich ſeh es unaufhalt- ſam näher kommen! Was klag’ ich hier? was ſtehn wir Alle hier? und droben der Engel ringt zwiſchen Leben und Tod — Sie ſtirbt! Sie ſtirbt! Soll ich ſie ſehn? kann ich ſie noch retten? O folgt mir! — Wohin? dort kommt Margot eben von ihr! Ja — ja — auf ihrer Miene kann ich es leſen — Es iſt geſchehen — mit Agnes, mit Agnes iſt es vorbei! — Hinweg! laßt mich fliehen! fliehen an’s Ende der Welt“ — Kraftvoll hält ihn Eliſabeth feſt, er ſtößt im ungeheuren Schmerz ein entſetzliches Wort gegen ſie aus, aber ſie umfaßt mit Geſchrei ſeine Kniee und er kann ſich nicht rühren. Der Präſident wendet das Auge von der herzzerreiſſenden Scene. „Weh! Wehe!“ ruft Eliſabeth, „wenn mein Geliebter mir flucht, ſo zittert der Stern, unter dem er geboren! Erkennſt du mich denn nicht? Liebſter! erkenne mich! Was hat mich hergetrieben? was hat mich die weiten Wege gelehrt? Schau an, dieſe blutenden Sohlen! Die Liebe, du böſer, undankbarer Junge, war allwärts hinter mir her. Im gelben Sonnenbrand, durch Nacht und Ungewitter, durch Dorn und Sumpf keucht ſehnende Liebe, iſt unermüdlich, iſt unertödtlich, das arme Le- ben! und freut ſich ſo ſüßer, ſo wilder Plage, und
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ſeyn, wer bleibt noch Menſch, wenn der barmherzige
Himmel ſich in Grauſamkeiten erſchöpft? Was? wär’s
ein Wunder, wenn hier auf der Stelle mich ſelbſt ein
tobender Wahnſinn ergriffe, mich fühllos machte gegen
das Aeußerſte, Lezte, das — o ich ſeh es unaufhalt-
ſam näher kommen! Was klag’ ich hier? was ſtehn
wir Alle hier? und droben der Engel ringt zwiſchen
Leben und Tod — Sie ſtirbt! Sie ſtirbt! Soll ich
ſie ſehn? kann ich ſie noch retten? O folgt mir! —
Wohin? dort kommt Margot eben von ihr! Ja —
ja — auf ihrer Miene kann ich es leſen — Es iſt
geſchehen — mit Agnes, mit Agnes iſt es vorbei!
— Hinweg! laßt mich fliehen! fliehen an’s Ende der
Welt“ — Kraftvoll hält ihn Eliſabeth feſt, er ſtößt
im ungeheuren Schmerz ein entſetzliches Wort gegen
ſie aus, aber ſie umfaßt mit Geſchrei ſeine Kniee und
er kann ſich nicht rühren. Der Präſident wendet das
Auge von der herzzerreiſſenden Scene. „Weh! Wehe!“
ruft Eliſabeth, „wenn mein Geliebter mir flucht, ſo
zittert der Stern, unter dem er geboren! Erkennſt du
mich denn nicht? Liebſter! erkenne mich! Was hat
mich hergetrieben? was hat mich die weiten Wege
gelehrt? Schau an, dieſe blutenden Sohlen! Die Liebe,
du böſer, undankbarer Junge, war allwärts hinter
mir her. Im gelben Sonnenbrand, durch Nacht und
Ungewitter, durch Dorn und Sumpf keucht ſehnende
Liebe, iſt unermüdlich, iſt unertödtlich, das arme Le-
ben! und freut ſich ſo ſüßer, ſo wilder Plage, und
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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 577. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/263>, abgerufen am 24.11.2024.
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