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Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

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Sie scheint nicht zu hören, wie verschlossen sind
all' ihre Sinne. An ihrer Hand nur kann er fühlen,
wie sonderbar ein wiederholtes Grausen durch ihren
Körper gießt. Dabei murmelt sie nachdenklich ein
unverständliches Wort. Nicht lang, so springt sie
heftig auf -- "O unglückselig! unglückselig!" ruft sie,
die Hände über'm Haupt zusammenschlagend, und stürzt,
den Maler weit weg stoßend, in das Haus. Vor
seinem Geiste wird es Nacht -- er folgt ihr langsam
nach, sich selbst und diese Stunde verwünschend.


Margot kam erst den andern Vormittag zurück
von der Stadt. Sie war verwundert, eine auffallende
Verstimmung unter ihren Gästen sogleich wahrnehmen
zu müssen. Bescheiden forschte sie bei Nannetten,
doch diese selbst war in der bängsten Ungewißheit.
Agnes hielt sich auf ihrem Zimmer, blieb taub auf
alle Fragen, alle Bitten, und wollte keinen Menschen
sehn. Das Fräulein eilt hinüber und findet sie an-
gekleidet auf dem Bett, den Bleistift in der Hand,
sinnend und schreibend. Sie ist sehr wortarm, nach
allen Theilen wie verwandelt, ihr Aussehn dergestalt
verstört, daß Margot im Herzen erschrickt und sich
gerne wieder entfernt, nicht wissend, was sie denken
soll. -- Nannette bestürmt den Bruder mit Fra-
gen, er aber zeigt nur eine still in sich knirschende
Verzweiflung. Zu deutlich sieht er die ganze Gefahr

Sie ſcheint nicht zu hören, wie verſchloſſen ſind
all’ ihre Sinne. An ihrer Hand nur kann er fühlen,
wie ſonderbar ein wiederholtes Grauſen durch ihren
Körper gießt. Dabei murmelt ſie nachdenklich ein
unverſtändliches Wort. Nicht lang, ſo ſpringt ſie
heftig auf — „O unglückſelig! unglückſelig!“ ruft ſie,
die Hände über’m Haupt zuſammenſchlagend, und ſtürzt,
den Maler weit weg ſtoßend, in das Haus. Vor
ſeinem Geiſte wird es Nacht — er folgt ihr langſam
nach, ſich ſelbſt und dieſe Stunde verwünſchend.


Margot kam erſt den andern Vormittag zurück
von der Stadt. Sie war verwundert, eine auffallende
Verſtimmung unter ihren Gäſten ſogleich wahrnehmen
zu müſſen. Beſcheiden forſchte ſie bei Nannetten,
doch dieſe ſelbſt war in der bängſten Ungewißheit.
Agnes hielt ſich auf ihrem Zimmer, blieb taub auf
alle Fragen, alle Bitten, und wollte keinen Menſchen
ſehn. Das Fräulein eilt hinüber und findet ſie an-
gekleidet auf dem Bett, den Bleiſtift in der Hand,
ſinnend und ſchreibend. Sie iſt ſehr wortarm, nach
allen Theilen wie verwandelt, ihr Ausſehn dergeſtalt
verſtört, daß Margot im Herzen erſchrickt und ſich
gerne wieder entfernt, nicht wiſſend, was ſie denken
ſoll. — Nannette beſtürmt den Bruder mit Fra-
gen, er aber zeigt nur eine ſtill in ſich knirſchende
Verzweiflung. Zu deutlich ſieht er die ganze Gefahr

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[567/0253] Sie ſcheint nicht zu hören, wie verſchloſſen ſind all’ ihre Sinne. An ihrer Hand nur kann er fühlen, wie ſonderbar ein wiederholtes Grauſen durch ihren Körper gießt. Dabei murmelt ſie nachdenklich ein unverſtändliches Wort. Nicht lang, ſo ſpringt ſie heftig auf — „O unglückſelig! unglückſelig!“ ruft ſie, die Hände über’m Haupt zuſammenſchlagend, und ſtürzt, den Maler weit weg ſtoßend, in das Haus. Vor ſeinem Geiſte wird es Nacht — er folgt ihr langſam nach, ſich ſelbſt und dieſe Stunde verwünſchend. Margot kam erſt den andern Vormittag zurück von der Stadt. Sie war verwundert, eine auffallende Verſtimmung unter ihren Gäſten ſogleich wahrnehmen zu müſſen. Beſcheiden forſchte ſie bei Nannetten, doch dieſe ſelbſt war in der bängſten Ungewißheit. Agnes hielt ſich auf ihrem Zimmer, blieb taub auf alle Fragen, alle Bitten, und wollte keinen Menſchen ſehn. Das Fräulein eilt hinüber und findet ſie an- gekleidet auf dem Bett, den Bleiſtift in der Hand, ſinnend und ſchreibend. Sie iſt ſehr wortarm, nach allen Theilen wie verwandelt, ihr Ausſehn dergeſtalt verſtört, daß Margot im Herzen erſchrickt und ſich gerne wieder entfernt, nicht wiſſend, was ſie denken ſoll. — Nannette beſtürmt den Bruder mit Fra- gen, er aber zeigt nur eine ſtill in ſich knirſchende Verzweiflung. Zu deutlich ſieht er die ganze Gefahr

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Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 567. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/253>, abgerufen am 09.05.2024.