Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

Wie sonderbar ist Nolten von dieser Schilde-
rung ergriffen! wie lebhaft erkennt er sich und Eli-
sabeth
selbst noch in einem so bunt ausschweifenden
Gemälde! und diese Wehmuth der Vergangenheit, wie
vielfach ist sie bei ihm gemischt! -- Mechanisch steht
er endlich auf und läßt sich von der träumerischen
Wirrung der grünen Schattengänge eine Zeitlang wil-
lenlos hin und wieder ziehen. So lieblich war die
schmerzhafte Betäubung seiner Seele, so sehr hat er
sich in den Wundergärten der Einbildung vertieft,
daß, als er nun ganz unvermuthet sich am Ausgange
des Labyrinths dem hellen nüchternen Tageslichte zu-
rückgegeben sah, dieß ihm das unbehaglichste Erwachen
war. Mit verdüstertem Kopfe schleicht er nun da
und dort umher, und als endlich Agnes mit unter-
gehender Sonne, vergnügt vom Schreibtische kommend,
nach dem Geliebten suchte, fand sie ihn einsam auf
dem Kanapee des großen Gartenhauses. Sie sehnte
sich nach frischer Abendluft, nach dem erholenden Ge-
spräch. Kaum waren einige Gänge gemacht, so hör-
ten sie in der Entfernung donnern; das Gewitter zog
herwärts. Der Gärtner, welcher diese schwülen Tage
her immer nach Regen geseufzt, lief jezt -- und Henni
hinterdrein -- mit schnellen Schritten nach Frühbeet
und Gewächshaus, beide bezeugten laut ihren Jubel
über den kommenden Segen, dem ein paar Windstöße
kräftig vorangingen. Die Liebenden waren unter das
hölzerne Dach des Belvedere getreten; Nannette

36

Wie ſonderbar iſt Nolten von dieſer Schilde-
rung ergriffen! wie lebhaft erkennt er ſich und Eli-
ſabeth
ſelbſt noch in einem ſo bunt ausſchweifenden
Gemälde! und dieſe Wehmuth der Vergangenheit, wie
vielfach iſt ſie bei ihm gemiſcht! — Mechaniſch ſteht
er endlich auf und läßt ſich von der träumeriſchen
Wirrung der grünen Schattengänge eine Zeitlang wil-
lenlos hin und wieder ziehen. So lieblich war die
ſchmerzhafte Betäubung ſeiner Seele, ſo ſehr hat er
ſich in den Wundergärten der Einbildung vertieft,
daß, als er nun ganz unvermuthet ſich am Ausgange
des Labyrinths dem hellen nüchternen Tageslichte zu-
rückgegeben ſah, dieß ihm das unbehaglichſte Erwachen
war. Mit verdüſtertem Kopfe ſchleicht er nun da
und dort umher, und als endlich Agnes mit unter-
gehender Sonne, vergnügt vom Schreibtiſche kommend,
nach dem Geliebten ſuchte, fand ſie ihn einſam auf
dem Kanapee des großen Gartenhauſes. Sie ſehnte
ſich nach friſcher Abendluft, nach dem erholenden Ge-
ſpräch. Kaum waren einige Gänge gemacht, ſo hör-
ten ſie in der Entfernung donnern; das Gewitter zog
herwärts. Der Gärtner, welcher dieſe ſchwülen Tage
her immer nach Regen geſeufzt, lief jezt — und Henni
hinterdrein — mit ſchnellen Schritten nach Frühbeet
und Gewächshaus, beide bezeugten laut ihren Jubel
über den kommenden Segen, dem ein paar Windſtöße
kräftig vorangingen. Die Liebenden waren unter das
hölzerne Dach des Belvedere getreten; Nannette

36
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0247" n="561"/>
          <p>Wie &#x017F;onderbar i&#x017F;t <hi rendition="#g">Nolten</hi> von die&#x017F;er Schilde-<lb/>
rung ergriffen! wie lebhaft erkennt er &#x017F;ich und <hi rendition="#g">Eli-<lb/>
&#x017F;abeth</hi> &#x017F;elb&#x017F;t noch in einem &#x017F;o bunt aus&#x017F;chweifenden<lb/>
Gemälde! und die&#x017F;e Wehmuth der Vergangenheit, wie<lb/>
vielfach i&#x017F;t &#x017F;ie bei ihm gemi&#x017F;cht! &#x2014; Mechani&#x017F;ch &#x017F;teht<lb/>
er endlich auf und läßt &#x017F;ich von der träumeri&#x017F;chen<lb/>
Wirrung der grünen Schattengänge eine Zeitlang wil-<lb/>
lenlos hin und wieder ziehen. So lieblich war die<lb/>
&#x017F;chmerzhafte Betäubung &#x017F;einer Seele, &#x017F;o &#x017F;ehr hat er<lb/>
&#x017F;ich in den Wundergärten der Einbildung vertieft,<lb/>
daß, als er nun ganz unvermuthet &#x017F;ich am Ausgange<lb/>
des Labyrinths dem hellen nüchternen Tageslichte zu-<lb/>
rückgegeben &#x017F;ah, dieß ihm das unbehaglich&#x017F;te Erwachen<lb/>
war. Mit verdü&#x017F;tertem Kopfe &#x017F;chleicht er nun da<lb/>
und dort umher, und als endlich <hi rendition="#g">Agnes</hi> mit unter-<lb/>
gehender Sonne, vergnügt vom Schreibti&#x017F;che kommend,<lb/>
nach dem Geliebten &#x017F;uchte, fand &#x017F;ie ihn ein&#x017F;am auf<lb/>
dem Kanapee des großen Gartenhau&#x017F;es. Sie &#x017F;ehnte<lb/>
&#x017F;ich nach fri&#x017F;cher Abendluft, nach dem erholenden Ge-<lb/>
&#x017F;präch. Kaum waren einige Gänge gemacht, &#x017F;o hör-<lb/>
ten &#x017F;ie in der Entfernung donnern; das Gewitter zog<lb/>
herwärts. Der Gärtner, welcher die&#x017F;e &#x017F;chwülen Tage<lb/>
her immer nach Regen ge&#x017F;eufzt, lief jezt &#x2014; und <hi rendition="#g">Henni</hi><lb/>
hinterdrein &#x2014; mit &#x017F;chnellen Schritten nach Frühbeet<lb/>
und Gewächshaus, beide bezeugten laut ihren Jubel<lb/>
über den kommenden Segen, dem ein paar Wind&#x017F;töße<lb/>
kräftig vorangingen. Die Liebenden waren unter das<lb/>
hölzerne Dach des Belvedere getreten; <hi rendition="#g">Nannette</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">36</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[561/0247] Wie ſonderbar iſt Nolten von dieſer Schilde- rung ergriffen! wie lebhaft erkennt er ſich und Eli- ſabeth ſelbſt noch in einem ſo bunt ausſchweifenden Gemälde! und dieſe Wehmuth der Vergangenheit, wie vielfach iſt ſie bei ihm gemiſcht! — Mechaniſch ſteht er endlich auf und läßt ſich von der träumeriſchen Wirrung der grünen Schattengänge eine Zeitlang wil- lenlos hin und wieder ziehen. So lieblich war die ſchmerzhafte Betäubung ſeiner Seele, ſo ſehr hat er ſich in den Wundergärten der Einbildung vertieft, daß, als er nun ganz unvermuthet ſich am Ausgange des Labyrinths dem hellen nüchternen Tageslichte zu- rückgegeben ſah, dieß ihm das unbehaglichſte Erwachen war. Mit verdüſtertem Kopfe ſchleicht er nun da und dort umher, und als endlich Agnes mit unter- gehender Sonne, vergnügt vom Schreibtiſche kommend, nach dem Geliebten ſuchte, fand ſie ihn einſam auf dem Kanapee des großen Gartenhauſes. Sie ſehnte ſich nach friſcher Abendluft, nach dem erholenden Ge- ſpräch. Kaum waren einige Gänge gemacht, ſo hör- ten ſie in der Entfernung donnern; das Gewitter zog herwärts. Der Gärtner, welcher dieſe ſchwülen Tage her immer nach Regen geſeufzt, lief jezt — und Henni hinterdrein — mit ſchnellen Schritten nach Frühbeet und Gewächshaus, beide bezeugten laut ihren Jubel über den kommenden Segen, dem ein paar Windſtöße kräftig vorangingen. Die Liebenden waren unter das hölzerne Dach des Belvedere getreten; Nannette 36

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/247
Zitationshilfe: Mörike, Eduard: Maler Nolten. Bd. 2 Stuttgart, 1832, S. 561. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moerike_nolten02_1832/247>, abgerufen am 02.05.2024.